Warum konnten die Menschen früher ohne Probleme viel Getreide essen?

Vor kurzem saß Lebensmittelchemiker, Forscher und Ernährungsjournalist Udo Pollmer in einer Talkrunde von Sandra Maischberger zum Thema "Gluten, Laktose etc. - Haben die Gesundesser recht?". Zuerst einmal möchte ich betonen, dass Herrn Pollmers Aussagen teilweise recht kontrovers sind und oft auch über das Ziel hinaus schießen. So verwehre ich mich bspw. gegen seine vehemente Verteidigung der Massentierhaltung oder seine oft unschönen verbalen Attacken gegenüber VegetarierInnen. Aber gerade auch bei solchen "Querköpfen" entdeckt man manchmal die interessantesten Sachen. Herr Pollmer beschrieb, dass Getreide früher eine sehr lange Verarbeitung erfuhr, bevor es verzehrt wurde. Dies wäre einer der Gründe, warum heute so viele Menschen Probleme mit etwa Weizen bekämen, während unsere Urahnen buchstäblich nur durch das Getreide überleben konnten. Was ist dran an dieser Aussage?


Wenn Gluten wirklich schädlich wäre, dann hätte es nach dem Mittelalter kaum noch Europäer geben dürfen ...

Haben Sie einen solchen oder einen ganz ähnlichen Satz schon einmal zu hören bekommen? Werden Sie bei Feiern oder Geschäftsessen auch schon einmal schief angesehen und müssen sich verbal verteidigen, als hätten Sie gerade die Gastfreundschaft der Familie beleidigt? Gerade in den letzten Monaten kam es ja zu gezielten Attacken seitens der Medien auf die "Gesundesser", wie uns Frau Maischberger und ihre Redaktion so liebevoll tauften. Darunter fallen Vegetarier und Veganer, BIO-Befürworter, aber auch diagnostizierte und undiagnostizierte Kranke, welche Laktose, Gluten, Histamin oder was auch immer meiden. Diese Angriffe werden nur zu gern von Familienangehörigen etc. aufgegriffen, um uns von der fehlenden Sinnhaftigkeit dieser "Ernährungsexperimente" zu überzeugen.


Ein typisches Argument ist dann das obige: Viele europäische Nationen lebten gerade im Mittelalter hauptsächlich von Weizen- und Roggenbrot. Warum hat es unseren Urahnen nicht geschadet? Diese Aussage möchte darauf hinaus, dass uns die Unverträglichkeiten medial eingeredet werden (etwa durch Bestseller wie "Weizenwampe" in den USA) und wir heute überempfindlich reagieren. Ist da ein Körnchen Wahrheit zu finden?


Gerade oben angesprochener Herr Pollmer, von welchem ich erst eine andere Positionierung erwartet hatte, da er sehr oft und hart gegen Ernährungstrends wettert, ergriff für uns "Gesundesser" Partei und führte wichtige Argumente ins Feld, welche dieses Argument entkräften.


Wenn Sie also vorbereitet in die nächste Debatte am Esstisch der Verwandten starten wollen, dann sind Sie hier genau richtig!


Backwaren enthalten heute viel mehr Gluten als früher!

In dem unten angehängten Video erklärt Herr Pollmer als Experte (er ist Lebensmittelchemiker) sehr schön, wie vielseitig man das Abfallprodukt Gluten enzymatisch verarbeiten kann. Ein Abfallprodukt ist es unter anderem deshalb, weil es massenhaft bei der Herstellung von Speisestärke und Traubenzucker übrig bleibt. Je nach Art der Verarbeitung entstehen nun Emulgatoren, Verdickungsmittel, Geschmacksstoffe usw. Möchte der Bäcker nun sein Brot oder seine Brötchen besonders lange frisch, weich und lecker haben, kann er preisgünstig verändertes Gluten zusetzen, ohne dies deklarieren zu müssen.


Diskurs: Es gibt aber sogar Firmen, die daraus ein besonderes Geschäft machen und so genannte "Fitness-Brötchen" oder "Eiweiß-Brot" vermarkten. Das extra zugesetzte Gluten treibt nämlich natürlich den Proteinanteil der Backware in die Höhe ...


Doch auch unser nächster Punkt trägt dazu bei, dass sich heute viel mehr Gluten in unserer Nahrung wiederfindet.


Fermentation baut Gluten ab!

Dieser Punkt war für mich der spannendste, weil ich darüber bisher nichts wusste. Getreideprodukte wurden früher sehr lange verarbeitet: Es wurden Vorteige angesetzt und lange gelagert, um die entsprechenden Sauerteigbrote zuzubereiten. Pastateig wurde an Wäscheleinen gehangen und fermentierte in der feuchten Seeluft. Pollmer zufolge bauten die am Fermentationsprozess beteiligten Bakterien das vorhandene Gluten weitgehend ab.


Aber wer isst heute schon noch traditionell zubereitetes Sauerteigbrot? Oder welche Firma nimmt Zeit und damit Finanzen in die Hand, um einen Nudelteig abzuhängen? Sind Verbraucher überhaupt bereit, dafür zu zahlen?


Mich interessierte, wie stark der Abbau durch die Fermentation ist. Unter anderem gibt es eine interessante Studie aus dem Jahr 2010 von Di Cagno und Kollegen. Die Wissenschaftler zeigten nicht nur, dass die Fermentation im Sauerteig den Glutengehalt des Weitenmehls unter 10ppm trieb, sondern darüber hinaus, dass sogar Zöliakiepatienten Backwaren aus diesem Mehl ohne Entzündungsprovokation verzehren konnten! Das ist für mich eine kleine Sensation.


Hochleistungsweizen vs. Tradition

Der dritte und letzte Punkt ist, dass unser moderner Hochleistungsweizen nicht mehr den früher verbreiteten Sorten gleicht. So wurden gerade dem Weizen, aber auch anderen Getreidesorten gezielt bestimmte Proteine und andere Abwehrstoffe eingezüchtet, um sie resistenter gegen Insektenbefall und verschiedene Krankheiten zu machen.

Dies behindert nicht nur die Stärkeverdauung und die Aufnahme von Mikronährstoffen, auch die Wechselwirkung mit dem Gluten ist gänzlich unbekannt.


Über dieses Thema, vor allem die ATIs des Weizens, haben wir hier schon ausführlich berichtet.


Ein kleines Fazit gefällig?

Ich würde mir wünschen, dass sich die Betroffenen nicht mehr so schnell auf die Scheinargumente der Medien, aber auch ihrer näheren Umwelt einlassen. Wir müssen uns informieren, denn nur dann sind wir diesen Auseinandersetzungen gewachsen. Die "Gegenseite", die es oft nur gut mit uns meint ("Man muss doch auch mal genießen", oder "Da gehen doch wichtige Nährstoffe verloren") verliert letztlich nur eine Diskussion am Abendbrottisch. Wir können hingegen unser Wohlbefinden und unsere Gesundheit verlieren.


Vor allem sollten alle Seiten das Phänomen differenzierter betrachten: Es gibt Menschen, die Getreide meiden, weil es gerade in Hollywood "in" ist. Es gibt aber auch UNS - sehr viele Menschen, die erhebliche Symptome haben und denen es bei Getreideverzicht besser geht, egal ob durch FODMAP, ATI oder Gluten. Getroffen werden wir durch die Angriffswellen von Medien und Allgemeinbevölkerung immer alle.


Ich kann hier letztlich nur zu mehr Gelassenheit aufrufen. Warum sollte sich schließlich jemand daran stoßen, dass Schwesterlein statt Muffin jetzt lieber Quinoasalat isst und ihre Speisen bewusst auswählt und selber kocht? Ist da vielleicht auch manchmal ein klein wenig Angst vor dem Hinterfragen der eigenen Ernährungsgewohnheiten dabei?


Zum Abschluss hier noch Udo Pollmer über Gluten, Seitan und Co: