Heute möchte ich einmal wieder alle meine Alltagsheldensuperkräfte aktivieren und mich in die buchstäbliche Höhle des Löwen wagen. Ich werde nämlich, dem zu erwartenden, in unseren Zeiten beinahe schon obligatorischen, Shitstorm zum Trotz über die Möglichkeiten der Heilung des Reizdarmsyndroms schreiben.
Dass dies ein wagemutiges Unterfangen, vergleichbar etwa nur mit Jasons Suche nach dem Goldenen Vlies ist, musste ich schon häufig in der Vergangenheit erfahren. Allein auf die Verwendung des Begriffes "Heilung" reagieren viele Betroffene des Reizdarmsyndroms, aber auch viele Ärzte, nämlich sehr sensibel (fast so penetrant wie unser Darm im Rahmen der viszeralen Hypersensitivität auf bspw. Dehnungsreize).
Diese Bedenken kann ich - teilweise - gut nachvollziehen, denn von meinen Leserinnen und Zuschauern weiß ich, wie viele von euch da draußen schon auf dubiose Heilungsversprechen skrupelloser Therapeuten hereingefallen, oder der Marketingmaschinerie großer Pharmakonzerne auf den Leim gegangen sind. Machen wir uns nichts vor, bei einer Betroffenenquote von immerhin über 16%, also fast 14 Millionen deutschen Staatsbürgern (Althaus und Kollegen, 2016 nach ROMIII), lässt sich mit dieser Erkrankung massiv Geld verdienen. Und was lässt sich denn besser verkaufen, als die vollständige Erlösung von den quälenden Symptomen Durchfall, Bauchschmerzen, Verstopfung, Übelkeit usw., also dem Heilen der Erkrankung selbst? Mit jeder chronischen Erkrankung, welche massiv in die Lebensqualität der Patienten eingreift (diese liegt bei Patienten mit dem Reizdarmsyndrom noch weit unter der von Betroffenen mit Diabetes mellitus oder Nierenerkrankungen im Endstadium - s. Mönnikes, 2011), sind erhebliche Ängste, aber eben auch Hoffnungen auf eine vollständige Genesung oder zumindest deutliche Besserung verbunden. Mit diesen Hoffnungen leidender Menschen zu spielen, um eigene, zumeist (aber nicht nur) materielle, Bedürfnisse zu befriedigen, ist absolut verachtenswert und gehört durch uns Patienten verurteilt!
Dennoch irren viele Ärzte, Ernährungsberater und vor allem auch Patienten, wenn sie starr konstatieren, eine Heilung des Reizdarms (und übrigens auch anderer chronischer Darmerkrankungen) sei nicht möglich. Diese inzwischen seit fast zwei Jahrzehnten überholte Sichtweise widerspricht einfach der inzwischen vorliegenden wissenschaftlichen Evidenz. Und damit nicht genug! Sie hemmt viele von uns, ihre Genesung und Therapie in die eigenen Hände zu nehmen, denn die vielversprechendsten Therapien erhalten die Betroffenen eines Reizdarms nach wie vor (leider!) nicht bei ihrem Arzt. Ganz im Gegenteil, die Patientenzufriedenheit mit der Behandlung durch die Mediziner, als auch deren entgegengebrachtem Verständnis für die Bedürfnisse und Nöte der Erkrankten ist nach wie vor unterdurchschnittlich (Bertram und Kollegen, 2001; Halper, 2018). Die wirkungsvollsten Interventionen beruhen zum einen auf einer erweiterten Diagnostik, welche aber zu einem erheblichen Teil nicht in den Leitlinien der Ärzte vorgesehen ist, zum anderen auf teils drastischen Lebensstilinterventionen wie Ernährungsumstellung, Fasten usw. (siehe zu beiden Punkten die unten auszugsweise vorgestellte Studienlage). Durch die lediglich in einem medizinhistorischen Kontext wahre Mär´ der ausschließlich symptomatisch zugänglichen Erkrankung, ohne bekannte Ursachen und Pathomechanismen, belässt man unzählige Menschen in einem Zustand der Resignation und Hoffnungslosigkeit, mitsamt allen negativen Folgeerscheinungen wie sozialer Isolation, drohender Arbeitslosigkeit und psychischen Erkrankungen (z.B. Drossman und Kollegen, 2009), bis hin zu Suizidgedanken und sogar -versuchen (Miller und Kollegen, 2004).
Dabei könnten noch so viel mehr von uns von den inzwischen bekannten erfolgversprechenden Therapieansätzen profitieren, denn ... Das Reizdarmsyndrom IST heilbar!
Nimm dir etwas Zeit (Okay, es könnte wie immer auch etwas länger dauern - hol dir am besten noch einen Kaffee und ein Kissen!) und lass dich von den folgenden Fakten überzeugen.
Inhaltsverzeichnis: Das wirst du in diesem Artikel lernen.
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Was das "Reizdarmsyndrom" eigentlich ist und welche Probleme mit einer groben medizinischen Systematik einhergehen.
- Warum es sich bei einem Reizdarm um ein "Syndrom" handelt.
- Warum ganz unterschiedliche Beschwerdebilder, Symptome und Schweregrade allesamt pauschal als "Reizdarm" bezeichnet werden.
- Wie die Wissenschaft versucht, diesem Manko durch die Einführung von Subtypen und Schweregraden des Reizdarmsyndroms zu begegnen, um eine zielgerichtetere Ursachenforschung und Therapie zu ermöglichen.
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Welche Maßnahmen und Untersuchungen neben den erfüllten Definitionskriterien laut fachärztlichen Leitlinien vorgenommen werden sollten, um die Diagnose
Reizdarm zu stellen.
- Warum viele Ärzte und Wissenschaftler Reizdarmpatienten für überdiagnostiziert halten und vor einer erweiterten und wiederkehrenden Diagnostik warnen (und damit teilweise recht haben).
- Warum andere, progressive Wissenschaftler die Reizdarmpatienten für unterdiagnostiert halten (und damit noch mehr recht haben).
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Was wirklich hinter dem Symptomkomplex "Reizdarmsyndrom" steckt bzw. stecken kann (Alternative Erklärungsmuster - spezifische Erkrankungen, welche die Symptome
eines RDS erzeugen oder verstärken).
- Wie häufig diese alternativen Erklärungsmodelle im Rahmen der Reizdarmdiagnose zu finden sind, wenn die Ärzte nur genau(er) hinschauen (würden).
- Wie die Behandlung dieser alternativen Erklärungsmodelle zu einer "Heilung" des Reizdarmsyndroms führen kann (samt wissenschaftlicher Belege).
- Welches wissenschaftstheoretische Problem dabei auftritt und warum dieses den meisten Patienten absolut egal ist.
- Was nach Abzug dieser alternativen Erklärungen noch vom Reizdarm übrig bleibt.
- Welche persönlichen Schritte einzuleiten sind, um diesen Störungsbildern auf die Schliche zu kommen.
- Abbildungsverzeichnis
Was ist eigentlich ein Reizdarmsyndrom?
Exkurs: Was ist ein Syndrom?
Ein Syndrom bezeichnet letztendlich nichts anderes, als das gemeinsame Auftreten von Symptomen, wobei davon ausgegangen wird, dass diese Beschwerden überzufällig oft zusammen auftreten. Merken solltest du dir unbedingt, dass diese Zuschreibung keinerlei Aussage über einen ursächlichen oder pathologischen Zusammenhang dieser Symptome beinhaltet, sondern eine rein beschreibende Funktion besitzt. Sind die Ursachen und Pathogenese einer Erkrankung noch weitgehend unbekannt, wird häufig mit der Kategorie "Syndrom" eine erste grobe diagnostische Einschätzung vorgenommen.
Um nach diesen international gültigen Kriterien als Patientin mit einem Reizdarmsyndrom diagnostiziert zu werden, musst du ...
- über die letzten drei Monate mindestens an einem Tag pro Woche unter wiederkehrenden Bauchschmerzen gelitten haben.
- Schmerzen stehen in Verbindung mit dem Stuhlgang (z.B. bessern sich durch Stuhlgang)
- Schmerzen stehen in Verbindung mit veränderter Stuhlfrequenz (z.B. häufigerer oder seltener Stuhlgang)
- Schmerzen stehen in Verbindung mit veränderter Stuhlkonsistenz (z.B. Durchfall oder Verstopfung - Bristol Stuhlformen Skala)
Mindestens zwei der Unterkriterien müssen zutreffen, um die Diagnose zu stellen. Die Kriterienkombination muss für die letzten drei Monate erfüllt sein, wobei der Beginn der Beschwerden mindestens ein halbes Jahr zurückliegen muss.
Reizdarm: Eine Erkrankung (Eher: Symptomkomplex) der tausend Gesichter
An den recht großzügigen und liberal gehaltenen Kriterien für die Diagnose des Reizdarmsyndroms nach ROM-IV kannst du bereits erkennen, dass das Reizdarmsyndrom (RDS) tatsächlich eine Krankheit der 1.000 (mindestens!) Gesichter ist. Die interindividuelle Ausprägung der Symptomatik, Krankheitsmechanismen und auch psychischen und sozialen Copingstrategien ist hoch differenziert. Kaum eine Erkrankte gleicht in diesen Aspekten der anderen, was die Möglichkeiten der Ursachenforschung und vor allem der zielführenden effektiven Therapie massiv einschränkt. Ein kleines Beispiel gefällig?
Eine wahre Geschichte von Sabrina und Jörg
Jörg ist Maschinenbauingenieur, beruflich erfolgreich und frönt in seiner, manchmal zugegeben etwas spärlichen, Freizeit vielen aktiven Hobbies. Seinen Gesundheitszustand kann man als robust bezeichnen. Er wird nur sehr selten krank und regeneriert sich schnell von körperlichen Herausforderungen (etwa den regelmäßigen Wettkämpfen im Triathlon). Allerdings bekommt er immer sonntags seltsame Bauchschmerzen und geht morgens auch etwas häufiger zur Toilette, wobei der Stuhl etwas weicher ist als sonst. Nach zwei bis drei dieser Gänge ist der Spuk aber auch schon wieder vorbei. Nach einem Gespräch mit seinem Hausarzt, einem Ultraschall, sowie Blut- und Stuhltest, hat sich Jörg mit diesem Phänomen arrangiert. Schmunzelnd steht er vom Brunch mit den Freunden auf und entschuldigt sich "er habe wieder seine Männertage". Ob diese Beschwerden auf den sonnabendlichen Umtrunk mit den Feuerwehrkameraden, die sonntäglichen Frühstückseier oder etwas ganz anderes zurückzuführen sind, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Allerdings sind Jörgs Beschwerden für ihn so mild, dass er ohnehin auf keines dieser Rituale verzichten würde ...
Sabrina dagegen hat es da um einiges schwerer. Seit einer akuten Magen-Darm-Grippe vor vier Jahren leidet sie an heftigen Verdauungsbeschwerden, geprägt von starken, krampfhaften Schmerzen, wässrigen Durchfällen und ab und an zäher Verstopfung. Diese Symptome treten schubartig und vollkommen unvorhersehbar auf. Kurze beschwerdeärmere Intervalle werden immer wieder durch anstrengende Krankheitsschübe unterbrochen. Aufgrund ihrer Beschwerden muss Sabrina häufig ihrer Arbeit als Sekretärin fernbleiben und isoliert sich zusehends von ihrem sozialen Umfeld. Lange vorbei sind die Tage, an denen sie Jörg und die anderen auf Wanderungen, Skitouren oder zum Klettern begleitet hat. Zu groß ist die Angst, die bedrohlichen und manchmal unaushaltbar scheinenden Beschwerden könnten unterwegs auftreten. Oder was würde passieren, wenn sie unterwegs plötzlich schlimmen Durchfall bekommen würde? Diese schamhafte Situation wäre für sie unerträglich!
Mit der Zeit traten zu Sabrinas Darmsymptomen auch weitere unspezifische Krankheitszeichen, etwa Kopfschmerzen und Schweißausbrüche, hinzu. Doch trotz zahlreicher und intensiver Untersuchungen bei verschiedensten Spezialisten, vom Gastroenterologen bis zum Immunologen, blieb die Ursache der Darmprobleme als auch der neueren systemischen Beschwerden ungeklärt. Bei Sabrina fanden sich allerdings erhöhte Entzündungsmarker (hs-CRP), eine gestörte Darmbarriere (Hyperpermeabilität) und vermehrte Mastzellen in den Biopsien des Darmgewebes mitsamt erhöhten Konzentrationen der Mastzellmediatoren, was in der Zusammenschau dieser Befunde für ein starkes und anhaltendes post-infektiöses Geschehen spricht. Die von den Ärzten verschriebenen Medikamente (Mebeverin, Loperamid, zahlreiche Probiotika, Versuche mit Mesalazin) helfen Sabrina nicht oder nicht dauerhaft. Die junge Frau ist extrem verzweifelt. Sie plagen Sorgen um ihre Gesundheit, die Zukunft, oder ob sie ihre Arbeit behalten kann. Hin und wieder tritt eine depressive Verstimmung in ihr Leben. Dann möchte sie am liebsten nur im Bett bleiben, grübeln und von allem und allen ihre Ruhe haben. Den letzten Nerv raubt ihr in letzter Zeit allerdings ausgerechnet ihr geliebter Jörg, welcher immer wieder mit leidigen Thema Familiennachwuchs die gemeinsamen Mahlzeiten bereichert ...
Um sich aber dennoch dem Aufdecken von Ursachen bzw. Pathomechanismen und der Entwicklung zielgerichteter und effektiver Therapieansätze zumindest anzunähern, behalfen sich die Wissenschaftler mit zahlreichen Unterkategorisierungen. So unterscheiden wir heute im Rahmen des Reizdarmsyndroms vor allem die verschiedenen Subtypen (Unterklassifizierungen mit spezifischeren, sich überschneidenden Symptomen innerhalb der Gruppen) (Self und Kollegen, 2015; Kibune und Kollegen, 2016).
- Das Reizdarmsyndrom-Durchfall (RDS-D, IBS-D) ist vor allem durch anhaltende Durchfälle und Bauchschmerzen geprägt. Häufig finden sich (Mikro-)Entzündungsprozesse.
- Das postinfektiöse Reizdarmsyndrom (PI-RDS, PI-IBS) entwickelt sich nach einer akuten Infektion des Magen-Darm-Traktes (z.B. einer Gastroenteritis) durch eine anhaltende Aktivierung des Immunsystems. Es finden sich Entzündungsprozesse, eine Vermehrung bestimmter Immunzellen (Mastzellen), veränderte Neurotransmitterkonzentrationen (Serotonin) und Störungen der Darmbarriere (Hyperpermeabilität). Das PI-RDS ist aufgrund der fast immer vorhandenen massiven Durchfälle zumeist dem RDS-D zuzuordnen, seltener dem RDS-A (siehe unten).
- Das Reizdarmsyndrom-Verstopfung (RDS-V, IBS-C) ist gekennzeichnet durch Minderung der Stuhlfrequenz und harten Stuhl (Verstopfung). Krankheitsmechanismen (z.B. Methanproduktion durch Fermentation im Dickdarm) und Therapieansätze unterscheiden sich recht stark vom RDS-D. So wirkt sich die bei RDS-D sehr wirksame FODMAP-Reduktion kaum positiv auf die Reizdarmbetroffenen mit Verstopfung aus.
- Das alternierende Reizdarmsyndrom (RDS-A, IBS-A bzw. IBS-Mixed), manchmal auch Wechseltyp genannt, ist die historische bzw. klassische Variante des Reizdarmsyndroms. Bei diesem Subtyp wechseln die Beschwerden zwischen Durchfall und Verstopfung, wobei Therapie und Pathogenese eher dem RDS-D zu ähneln scheinen.
- Das unkategorisierte Reizsarmsyndrom (RDS-U, IBS-U) bildet manchmal in der Literatur eine weitere Kategorie, um zu erfassen, dass bei einigen Patienten nicht die Stuhlveränderungen im Vordergrund stehen. Häufig wird dieser Subtyp auch als Schmerztyp (RDS-S, IBS-Pain) bezeichnet. Zieht man allerdings die ROM-Kriterien zur Definition heran, ist diese Klassifizierung eher nicht gerechtfertigt, da nach deren Vorgaben bei einem Reizdarmsyndrom entweder Änderungen der Stuhlkonsistenz oder Stuhlfrequenz vorhanden sein müssen (zusätzlich zu den Schmerzen), sonst müsste man korrekterweise eher von "functional abdominal pain" sprechen.
Die Häufigkeit der einzelnen Subtypen differiert in verschiedenen Studien. So ist das Reizdarmsyndrom mit Durchfall (ca. 65%) in vielen Studien der häufigste Subtyp, meist gleichauf gefolgt vom unkategorisierten Reizdarmsyndrom bzw. Schmerztyp (ca. 15%) und dem Reizdarmsyndrom mit Verstopfung (ebenfalls ca. 15%) und dem alternierenden Reizdarmsyndrom (ca. 5%) (z.B. Yao und Kollegen, 2011), Spezifisch für Deutschland lieferte eine Studie an 2.400 Studenten ein erschreckendes Ergebnis: Sage und schreibe über 18% der Befragten litten an einem Reizdarmsyndrom (nach ROMIII; bei den befragten StudentINNEN sogar über 20%). Diese Prävalenz setzte sich aus 7,8% Reizdarmsyndrom-Durchfall, 2,2% Reizdarmsyndrom-Verstopfung und 5,5% alternierendem Reizdarmsyndrom zusammen (Gulewitsch und Kollegen, 2011).
Neben dem Subtyp ist aber vor allem auch der Schweregrad von entscheidender Bedeutung für Patienten, Ärzte und Therapeuten. Denn natürlich macht es einen großen Unterschied, ob ich einmal wöchentlich (wie Jörg) Durchfall bekomme, oder eben mehrmals täglich (so wie Sabrina). Außerdem spielen hierbei auch Komorbiditäten (also Begleiterkrankungen - viele RDS-Betroffene leiden zusätzlich etwa an einer Fibromyalgie oder einem Chronischen Erschöpfungssyndrom), zusätzliche systemische Beschwerden, aber auch Bewältigungsmöglichkeiten eine Rolle (bspw. kann eine Sachbearbeiterin ohne engen Kundenkontakt, aber mit festem Büroplatz samt Toilette besser mit ihren täglichen Durchfällen auf Arbeit leben, als eine Lehrerin oder Professorin, die nicht einfach mal kurz das Klassenzimmer oder den Hörsaal verlassen kann, wenn es "brennt").
Aus diesem Grund wurden verschiedene Bewertungssysteme für den Schweregrad des Reizdarmsyndroms eingeführt. Das in der Wissenschaft verbreitetste Maß ist wohl der FBDSI (Functional Bowel Disorder Severity Index) (Sperber und Kollegen, 2000). Nach einer großangelegten Fragebogenstudie (knapp 2.000 Teilnehmer) mit diesem Index leiden etwa 31% der Befragten an einem milden Reizdarmsyndrom (<36 Pkt.), rund 48% an einem moderaten Reizdarmsyndrom (<110 Pkt.) und immerhin 20% an einem schweren Reizdarmsyndrom (>=110 Pkt.) (Drossman und Kollegen, 2009). Dabei trugen besonders folgende Faktoren zum Schweregrad bei:
- Darmbeschwerden (Durchfall/Verstopfung)
- Blähungen
- Eingeschränkte Ernährung
- Verminderte soziale Kontakte
- Unfähigkeit, das Haus/die Wohnung zu verlassen
- Einschränkungen auf Arbeit bzw. in der Schule/Universität
Zur Diagnose des Reizdarms gehört mehr als die Erfüllung der Diagnosekriterien
Zahlreiche Fachartikel veranschaulichen uns heute das Vorgehen zur sicheren Diagnosestellung eines Reizdarmsyndroms im Rahmen der ROM-IV-Kriterien (z.B. Lacy und Patel, 2017). Dabei sollten folgende Schritte in den diagnostischen Prozess einfließen:
- Umfassende Anamnese (Fallgeschichte, Familienerkrankungen etc).
- Besonderes Beachten bzw. spezifisches Erfragen von Warnsignalen (Alter über 50, Blut im Stuhl, nächtlicher Stuhlabgang bzw. Aufwachen wegen Stuhldrangs, ungewollter Gewichtsverlust, Darmkrebs oder chronisch-entzündliche Darmerkrankung in der Familie)
- Ausführliche körperliche Untersuchung (z.B. auf palpierbare Veränderungen im Bauchraum oder geschwollene Lymphknoten)
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Da verschiedene diagnostische Marker für die direkte Diagnosestellung zwar inzwischen vorhanden, aber noch nicht abschließend validiert sind, ist eine Ausschlussdiagnose
vorzunehmen.
- Großes Blutbild samt Entzündungsmarker CRP (Eisenmangel, Hinweis auf chronisch-entzündliche Darmerkrankung - CED)
- Bei Unsicherheit bzgl. CED evtl. fäkales Calprotectin (vor allem bei RDS-D oder RDS-A)
- Zöliakie-Antikörper
- Erst jetzt, nach Ausschluss der oben beschriebenen Warnsignale und dem Testen auf Alternativerklärungen, sollte die Anwendung der ROM-Kriterien erfolgen und bei deren Zutreffen die Diagnose gestellt werden.
Reizdarmpatienten sind überdiagnostiziert! (Meinen die Ärzte und Wissenschaftler)
Zahlreiche weitere Forscherteams verweisen auf die hohen volkswirtschaftlichen Kosten durch die häufige, sich teils wiederholende und extensive Diagnostik im Rahmen des Reizdarmsyndroms und raten .deshalb vehement von einer erweiterten Diagnostik ab. So ist es keine Seltenheit unter meinen Leserinnen und Zuschauern, dass einige RDS-Patienten bereits mehrere Darmspiegelungen, MRTs und andere Untersuchungen haben über sich ergehen lassen.
Allerdings haben die Wissenschaftler nicht nur das ökonomische Argument auf ihrer Seite, sondern auch die logischen, entscheidungsfindenden Daten. So konnte man in einer Studie mit 466 nach ROM-II diagnostizierten Reizdarm-Betroffenen eindrucksvoll demonstrieren, dass eine zusätzliche Darmspiegelung samt Biopsieentnahme die Diagnose in fast 99% der Fälle nicht veränderte (Chey und Kollegen, 2010).
Lacy und Patel halten lediglich das versuchsweise Eliminieren von Milchzucker, Fruchtzucker, Gluten oder FODMAPs für eine sinnvolle weitere Untersuchungsmethode, wobei sie interessanterweise nicht auf die vorhandenen Atemgastests zur Diagnostik von Kohlenhydratmalabsorptionen hinweisen, sondern auf das individuelle Austesten durch die Patienten.
Auch in Deutschland vertreten die allermeisten Ärzte und Fachgesellschaften identische oder ähnliche Standpunkte. Auch die S3-Leitlinie Reizdarmsyndrom der Deutschen Gesellschaft für Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten und der Deutschen Gesellschaft für Neurogastroenterologie und Motilität rät von einer weiterführenden und wiederkehrenden Diagnostik nach einer sauberen Anamnese und Basisdiagnostik ab (Layer und Kollegen, 2011).
Das Reizdarmsyndrom ist unterdiagnostiziert (Meinen andere Wissenschaftler und auch ich)
So hängt die Entscheidung über Heilung, Linderung oder Aufrechterhaltung (im schlimmsten Fall sogar Verschlechterung) des Reizdarmsyndroms unter Umständen von der Verfügbarkeit und Auswahl guter behandelnder Ärzte und Therapeuten ab. In diesem Zusammenhang möchte ich darauf hinweisen, dass es diese progressiven und engagierten Ärzte natürlich auch im deutschsprachigen Raum gibt. Positive Beispiele sind meiner Meinung nach etwa Prof. Dr. Martin Storr und Prof. Dr. Martin Raithel.
Wie sehr der gewählte Arzt über das Auffinden einer konkreten Ursache entscheidet, spiegelte kürzlich eine interessante Erhebung einer Krankenkasse wider. So konstatierte der BARMER Arztreport 2019, dass Bewohner der Neuen Bundesländer deutlich seltener einen Reizdarm diagnostiziert bekommen, als ihre westdeutschen Kontrollpersonen (Grobe und Kollegen, 2019). Dies liegt natürlich nicht daran, dass Ostdeutsche tatsächlich weniger vom Reizdarm betroffen sind als Westdeutsche. Die Autoren erklären diese auffällige Differenz durch die während des Medizinstudiums in der DDR ausgeprägte Akribie. Ost-Mediziner geben sich scheinbar nicht ganz so leichtfertig mit der "schwammigen" Diagnose Reizdarmsyndrom ab, sondern suchen nach spezifischeren Erkrankungen. So wird dann lieber eine Laktoseintoleranz oder eine Dünndarmfehlbesiedlung diagnostiziert als das Reizdarmsyndrom. Im Übrigen verweist auch diese Untersuchung auf ein erhebliches Zuviel an Diagnostik, vor allem was die bildgebenden Verfahren (z.B. MRT und CT) angeht.
Die Meinung vieler fortschrittlicher Wissenschaftler ist heute allerdings, dass sich hinter dem Namen "Reizdarmsyndrom" zahlreiche alternative Erkrankungen verbergen, bzw. sich mit der eigentlichen Erkrankung überschneiden (siehe z.B. Borghini und Kollegen, 2017). Einem schwierigen Puzzlespiel gleich müssen nun zuerst alle Teile aufgedeckt werden (bisher kennen wir nur einige Faktoren), um sie anschließend an der richtigen Stelle im Spiel zu platzieren. In einem nächsten wichtigen Schritt gilt es dann diese neuen Erkenntnisse am Patienten zu erproben. Ordnet ein Arzt nicht die notwendigen Untersuchungen an, um diese alternativen Erklärungen systematisch abzuklopfen, dann bleibt uns eine Heilung oder Linderung mit Sicherheit verwehrt.
Welche Erkrankungen stecken wirklich hinter dem Reizdarmsyndrom?
In der oben zum Download bereitgestellten Übersicht habe ich versucht, die Bandbreite des Krankheitskontinuums Reizdarmsyndrom zu erfassen, ohne dabei zu sehr ins Detail zu gehen. So hätte vor allem die Liste der Nahrungsmittelunverträglichkeiten und der Krankheitsmechanismen des "klassischen" Reizdarms ohne weiteres verlängert werden können. Eine große Schwäche dieses Modells sind die trennscharfen Grenzen, welche im klinischen Prozess natürlich nicht so klar gegeben sind. So kann natürlich grundsätzlich jeder Mechanismus auch innerhalb des klassischen Reizdarmsyndroms auftreten oder vielleicht auch nebenher existieren, sprich man hat dann "Läuse und Flöhe" und die zweite Störung (etwa eine bakterielle Dünndarmfehlbesiedlung) wirkt dann symptomverstärkend, statt erzeugend. Oder sie erzeugt zusätzliche (z.B. systemische) Beschwerden, welche nicht dem "klassischen" Krankheitsverlauf zuzuordnen sind.
Ein großer Teil der wissenschaftlichen Evidenz spricht allerdings dafür, dass einige der aufgeführten Faktoren die tatsächlich verantwortlichen Übeltäter hinter den Reizdarmsymptomen sein können und diesen damit einer Heilung zugänglich machen. Verschwindet die zugrundeliegende Störung, verschwindet also auch das Reizdarmsyndrom! Für diese, beim ersten Lesen vielleicht erst einmal etwas reißerisch anmutende, Behauptung werde ich im weiteren Verlauf dieses Artikels beispielhaft wissenschaftliche Belege anführen.
Wie häufig finden sich diese Alternativerklärungen, wenn die Ärzte genau(er) hinschauen?
Mechanismus bzw. Erkrankung | Häufigkeit | Therapie |
Nahrungsmittelallergie | Bis zu 68% der getesteten Reizdarmpatienten bei der Auswertung von Immunglobulin E im Stuhl (Andre´ und Kollegen, 1995). Bis zu 40% der RDS-D-Patienten leiden unter einer Nickelallergie (Rizzi und Kollegen, 2017). Bei einer direkten Provokation via Endoskopie reagierten sage und schreibe 70% der Reizdarmpatienten mit atypischen allergischen Reaktionen (nicht-IgE-vermittelt), die meisten auf Weizen (Fritscher-Ravens und Kollegen, 2019). |
Vermeidung der Allergene
Mastzellstabilisatoren
Histaminblocker |
Nicht-Zöliakie-assoziierte- Glutensensitivität (NZGS) |
Knapp ein Drittel der Studienteilnehmer mit einem Reizdarm (ROM-III) reagierten positiv auf eine glutenfreie Kost. Die randomisierte, doppelblinde und plazebokontrollierte Untersuchung arbeitete weiterhin mit einer Rechallengephase von Gluten. Auf das Klebeprotein des Weizens reagierten die Probanden signifikant stärker mit Bauchschmerzen und Müdigkeit als auf das Plazebo, was die Diagnose weiter bestätigte (Zanwar und Kollegen, 2016). |
glutenfreie Kost |
Laktoseintoleranz | Der Prozentsatz der deutschen Gesamtbevölkerung, welcher Milchzucker (Laktose) malabsorbiert (also aufgrund eines Enzymmangels nicht ausreichend aufspalten und absorbieren kann) liegt bei ca. 15%, schwankt aber stark zwischen den klassischen historischen Siedlungsräumen (z.B. Ostdeutschland und ehemals slawische Siedlungsgebiete 22% vs. Nordwestdeutschland 6%) (Flatz und Kollegen, 1982). Entscheidend über die Klassifikation als Laktoseintoleranz ist nun aber, ob zu dieser Malabsorption die typischen Symptome (Durchfall, Bauchschmerzen, Übelkeit) hinzutreten. Obwohl die Rate der Malabsorber sich zwischen gesunden Personen und Menschen mit Reizdarmsyndrom nicht unterscheidet, finden sich unter letzteren erheblich mehr Laktoseintolerante (45% vs. 15%) (Gupta und Kollegen, 2007; Xiong und Kollegen, 2017). |
laktosefreie Diät
Laktase |
Fruktoseintoleranz | Die zweite große Störung aus der Gruppe der Kohlenhydratmalabsorptionen geht nicht auf einen Enzymmangel, sondern auf einen Transporterdefekt zurück und scheint hinter oder beim Reizdarmsyndrom eine noch bedeutend größere Rolle zu spielen, als die Laktoseintoleranz. So liegt die Betroffenenquote für die Fruchtzuckerintoleranz von Reizdarmbetroffenen bei 30% (reine Fruktose) bzw. 47% (high-fructose-corn-syrup) (DiNicolantonio und Kollegen, 2015). Hierbei handelt es sich bereits um die Intoleranz, neben der Malabsorption sind also bereits klinische Symptome vorhanden. |
fruktosearme Kost
Xylose-Isomerase |
Histaminintoleranz | Bei der Histaminintoleranz kommt es aufgrund eines Mangels am histaminabbauenden Enzym Diaminoxidase zu einem Überschuss des Gewebshormons und Neurotransmitters Histamin, welcher schließlich, u.a. durch seine entzündungsinduzierende Wirkung, systemische Beschwerden erzeugt. In einer Studie an Histaminintoleranten, Patienten mit Nahrungsmittelallergien und gesunden Kontrollpersonen zeigten die Wissenschaftler, dass es neben weiteren Symptomen (Hinweise: Laufende Nase, Nasenschwellung etc.) im Rahmen der Histaminintoleranz (HIT) zu den klassischen gastrointestinalen Beschwerden kommt, um die Diagnosekriterien für ein RDS zu erfüllen. So litten über 60% der untersuchten Personen an Übelkeit, 50% an Durchfällen und knapp 40% an Bauchschmerzen (Pinzer und Kollegen, 2017). |
Diaminoxidase (DAO)
histaminarme Kost
evtl. Histaminblocker |
Salicylatintoleranz | Der Salicylatintoleranz, einer Pseudoallergie, wird leider nicht die Beachtung geschenkt, welche sie gerade auch im Rahmen chronischer Darmerkrankungen verdient hätte (siehe zum Reizdarmsyndrom z.B. Cuomo und Kollegen, 2014). Denn Salicylate sind, im Rahmen einer Intoleranz, sehr wohl in der Lage, die klassischen Beschwerden eines Reizdarmsyndroms hervorzurufen. In einer interdisziplinären Studie kamen Forscher aus Erlangen zu dem Schluss, dass der Diagnostik der Salicylatintoleranz bei gastrointestinalen Beschwerden ein hohen therapeutischer Wert zugemessen werden sollte (2-7% der chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen und Lebensmittelallergien) (Raithel und Kollegen, 2005). | salicylatarme Kost und Medikation |
Dünndarmfehlbesiedlung |
Die bakterielle Überwucherung des ansonsten eher (zumindest in Relation zum Dickdarm) spärlich besiedelten Dünndarms ist eine der inzwischen am besten untersuchten Erklärungen für Reizdarmbeschwerden. Je nach Untersuchungsmethode sind bis zu 65% (Laktulose-Atemgastest, gesunde Kontrollpersonen 7%), 31% (Glukose-Atemgastest, gesunde Kontrollpersonen 4%) oder 33% (Goldstandard: Kultur einer Dünndarmprobe; gesunde Kontrollpersonen 0%) der Reizdarmpatienten betroffen (Ghoshal und Kollegen, 2017). Neben der bakteriellen gibt es auch eine Überwucherung des Dünndarms mit Pilzen (genauer: Hefepilzen), welche früher gern als Candidiasis bezeichnet wurde. 25,3% und 26% der Patienten mit ungeklärten chronischen Darmbeschwerden leiden unter dieser Überwucherung (Erdogan und Kollegen, 2015). |
Antibiose (pflanzlich oder chemisch)
Fasten bzw. Elementardiät
Ernährungsumstellung
Prokinetika
Antimykotika |
Gallensäureverlustsyndrom |
Etwa 30% der Patienten mit einem Reizdarmsyndrom-Durchfall leiden tatsächlich oder zusätzlich an einem Gallensäureverlustsyndrom. Bei dieser Störung ist die Reabsorption der Gallensäuren im Gallensäurenkreislauf vermindert, wodurch es zu Transitbeschleunigungen und osmotischen Effekten kommt (Wedlake und Kollegen, 2009). Bauchschmerzen und breiiger Stuhl bis wässriger Durchfall sind die unschönen Folgen. Für die Leidensgenossen des Reizdarmsyndroms mit Verstopfung gilt der entgegengesetzte Fall: 15% von ihnen haben einen Gallensäurenmangel (Vihayvarija und Kollegen, 2018). |
Colestyramin |
Elastasemangel | Ein Mangel an Bauchspeichelenzymen und damit die fehlende Aufspaltung von Fetten, Proteinen und Kohlenhydraten lässt sich bei immerhin über 6% der Patienten mit einem Reizdarm-Durchfall nachweisen (Leeds und Kollegen, 2010). | Pankreasenzyme |
Chronische Infektionen |
Chronische Infektionen spielen im Rahmen des diagnostizierten Reizdarmsyndroms eine bedeutende Rolle, werden aber zu selten diagnostiziert. So ließen sich in einer Studie in 25% und 11% Infektionen mit Blastocystis hominis und Giardia in Patienten mit dem Reizdarmsyndrom-Verstopfung nachweisen, aber nur in 9% und 1% der gesunden Kontrollpersonen (Jadallah und Kollegen, 2017). Vor allem der Parasit Blastocystis hominis wurde aber auch als eine mögliche Ursache für einen Teil der Fälle des Reizdarmsyndroms Durchfall diskutiert (Boorom und Kollegen, 2008). |
Antibiose und andere |
Alles schön und gut, aber was ist nun mit der versprochenen Heilung?
Und nun folge mir in die Welt der hochmagischen Heilung des Reizdarmsyndroms!
Beispiel I: Reizdarm heilen mit glutenfreier Kost
In einer wirklich bahnbrechenden Studie untersuchte ein Forscherteam der Universität Greifswald um Professor Wahnschaffe bereits 2007 die Prädiktoren für ein Ansprechen von Patienten mit dem Reizdarmsyndrom-Durchfall auf eine langfristige glutenfreie Diät (Wahnschaffe und Kollegen, 2007). Hierfür entnahmen sie Proben von 145 RDS-Patienten und verglichen u.a. deren Glutenantikörper mit jenen behandelter und unbehandelter Zöliakiepatienten und zusätzlich mit jenen Betroffener einer chronisch-entzündlichen Darmerkrankung (Nebenbemerkung: Die Reizdarmbetroffenen wiesen deutlich höhere Konzentrationen an IgG-Antikörpern und auch eine höhere Frequenz genetischer Prädispositionen auf -> Beachte, dass das Konzept der Nicht-Zöliakie-assoziierten-Glutensensitivität [NZGS] erst später entwickelt wurde).
Anschließend setzten die Wissenschaftler 41 Patienten mit Reizdarmsyndrom und Durchfall auf eine langfristige glutenfreie Kost. Zentrales Ergebnis:
Eine vollständige Normalisierung der Stuhlfrequenz (kein Durchfall mehr) und des Reizdarm-Symptomscores (keine Bauchschmerzen mehr) in 60% der prädiktorpositiven (genet. Prädisposition + IgG-Antikörper) und immerhin 12% der prädiktornegativen Patienten.
Die "Patienten" erfüllten somit nicht mehr die Diagnosekriterien für ein Reizdarmsyndrom!
Beispiel II: Reizdarm heilen mit der Auslöschung der Dünndarmfehlbesiedlung
Eine weitere revolutionäre Studie der Reizdarmforschung wurde an der Universität von Kalifornien durchgeführt und ihre beeindruckenden Ergebnisse bewegten den Hauptautoren, Professor Pimentel, später zu seiner Hypothese der mikrobiellen Verursachung des Reizdarmsyndroms (siehe sein englischsprachiges Buch dazu - "A new IBS solution: Bacteria - the missing link in treating Irritable Bowel Syndrome").
Die Wissenschaftler untersuchten um die Jahrtausendwende 202 Reizdarmpatienten (damals noch ROM-I) via Laktulose-Atemgastest auf das Vorliegen einer bakteriellen Dünndarmfehlbesiedlung (Pimentel und Kollegen, 2000). Sage und schreibe 78% der untersuchten Reizdarmfälle wurden daraufhin mit einer bakteriellen Überwucherung des Dünndarms diagnostiziert und anschließend einer Antibiotikabehandlung unterzogen. Nach Abschluss der Medikation erfolgte ein Nachbefragung der Patienten, wobei diese nichts über das Ergebnis des zweiten Atemgastests nach der Antibiose wussten.
Zentrales Ergebnis:
Annähernd die Hälfte der Patienten erreichte eine vollständige Beseitigung der bakteriellen Dünndarmfehlbesiedlung durch Antibiotika, was zu starken Verbesserungen der Beschwerden führte (Gemessen wurden: Durchfall, Bauchschmerzen, Blähungen, Erleichterung bei Stuhlabgang, Gefühl der vollständigen Entleerung, Stuhldrang - Dringlichkeit, Schleim im Stuhl, Pressen beim Stuhlgang).
Starke 48% der erfolgreich behandelten DDFB-Fälle erfüllten nun nicht mehr die ROM-Kriterien für das Reizdarmsyndrom!
Beispiel III: Reizdarm heilen durch die Behandlung eines Gallensäureverlustsyndroms
Ein systematisches Review einer Forschungsgruppe aus London schloss aus der Datenanalyse von über 1.200 Patienten mit einem Reizdarmsyndrom-Durchfall, dass etwa 30% dieser Patientengruppe tatsächlich an einem Gallensäureverlustsyndrom leidet (Wedlake und Kollegen, 2009). Die Autoren berichten weiterhin eine starke Wirksamkeit des Resorptionshemmers für Cholesterin, Colestyramin, welches die überschüssigen Gallensäuren im Rahmen des Gallensäureverlustsyndroms bzw. der chologenen Diarrhö im Darm bindet. Bei schweren Gallensäureverlustsyndromen liegt die Wirksamkeit bei über 96% und bei milden und moderaten Ausprägungen bei immerhin zwischen 70% und 80%. Nun könntest du vielleicht entgegnen, dass das Verschwinden der Symptome Bauchschmerzen und starker Durchfall nur auf kurzfristige Plazeboeffekte zurückzuführen sein könnte. Doch zur Behandlung des Gallensäureverlustsyndroms liegen auch Langzeitdaten vor.
Ein Team schottischer Wissenschaftler begleitete Durchfallpatienten mit einem diagnostizierten Gallensäureverlustsyndrom, welche erfolgreich mit Colestyramin versorgt worden waren, über im Durchschnitt acht Jahre (Luman und Kollegen, 1995). Zentrales Ergebnis:
50% der Patienten waren nach einer Behandlungsphase mit Colestyramin spontan remittiert, ihre schweren Durchfälle hatten sich also reguliert, so dass sie keine Behandlung mehr benötigten. Weitere 36% der Patienten waren mit der täglichen Einnahme von Colestyramin beschwerdefrei.
Ein akademisches Problem, das für die Patienten gar keins ist ...
Aber ich möchte diese Datenschlacht hier gern beenden, um den Artikel nicht in die Unendlichkeit zu ziehen. Ich denke, der Punkt ist gemacht. Entdeckst du alternative Erklärungsmuster hinter deinen Reizdarmbeschwerden, sind diese oft heilbar, oder lassen sich zumindest stark lindern.
Kommen wir deshalb zu einer rein akademischen Frage, die sich in dem geschilderten Zusammenhang der einen oder dem anderen stellen mag. Handelt es sich bei diesen Beispielen eigentlich tatsächlich um eine Heilung des Reizdarmsyndroms?
Hierbei sind gleich zwei theoretische Aspekte voneinander zu differenzieren:
Wie du bereits wusstest, oder sicherlich bei der Lektüre dieses Artikels gelernt gelernt hast, handelt es sich bei einem Reizdarm erstens um ein Syndrom, also einen Symptomkomplex ohne geklärte Ursachen und Pathomechanismen, und zweitens um eine Ausschlussdiagnose auf Basis spezifischer Definitionskriterien bei gleichzeitigem diagnostischen Ausschluss anderer, alternativer Erklärungen für die Darmbeschwerden. Nun untersuchen die meisten Mediziner im Normalfall (siehe obige Empfehlungen) lediglich auf direkt bedrohliche Erkrankungen (z.B. das Vorliegen einer chronisch-entzündlichen Darmerkrankung oder einer Zöliakie) und vernachlässigen darüber hinaus die aufgeführten Erklärungsmuster, die vielleicht nicht per se gefährlich sind, dem Patienten das Leben aber dennoch ruinieren können (siehe Auswirkungen des Reizdarmsyndroms auf Lebensqualität, Einschränkungen im Alltag, Risikobereitschaft und Suizidalität). Nun stellt sich aber die Frage, ob man dann überhaupt noch von der "Heilung des Reizdarmsyndroms" sprechen darf, wenn man selbst bzw. der behandelnde Arzt eine andere, den Symptomen zugrundeliegende Erkrankung, z.B. eine NZ-GlutenSensitivität oder ein Gallensäureverlustsyndrom, entdeckt hat. Rein theoretisch ersetzt dann nämlich dieses neue Störungsbild die Reizdarmdiagnose, da beim Reizdarm eben keine alternative Störung für die Beschwerden verantwortlich sein darf ...
Nun verbergen sich aber, wie du im Verlauf dieser Abhandlung gesehen hast, viele verschiedene Erkrankungen unter der Kategorie bzw. dem Oberbegriff Reizdarmsyndrom und dies teilweise auch noch mit sehr hohen Prävalenzen (etwa 30% Gallensäureverlustsyndrom bei RDS-D, 40% Nickelallergie, bis zu 78% Dünndarmfehlbesiedlung). Meiner Einschätzung nach wird das Reizdarmsyndrom deshalb in einigen Jahren oder Jahrzehnten in eben jene "Suberkrankungen" zerfallen.
Der zweite Punkt betrifft den Begriff der "Heilung" an sich. Nehmen wir einmal das Beispiel der Nicht-Zöliakie-assoziierten-Glutensensitivität (NZGS). Aus Studien wissen wir, dass diese in der Lage ist, eine größere Subgruppe des Reizdarmsyndroms (vor allem jene Patienten mit Durchfall) von ihren Beschwerden zu befreien (siehe oben) und kennen inzwischen auch viele Mechanismen hinter dieser "Heilung" (etwa das Wiederherstellen der gestörten Darmbarriere oder das Normalisieren des veränderten Stuhltransits - s. Vazquez-Roque und Kollegen, 2012). Die "Reizdarm-Patienten" befolgen also eine streng glutenfreie Kost, verlieren nach Wochen bis Monaten sämtliche Beschwerden, wie Durchfall, Bauchschmerzen, drängenden Stuhlgang und Blähungen, und sind plötzlich keine "Reizdarm-Patienten" mehr. Ihre glutenfreie Kost müssen sie dafür allerdings ein Leben lang beibehalten (vermutlich - kaum Langzeiterfahrungen, es gibt Berichte vom spontanen "Ausheilen" bei jahrelanger Karenz - Mikrobiomeffekt?). Das bedeutet allerdings, dass die NZGS nicht "geheilt", sondern nur ihre Symptome kontrolliert worden sind. Auf der anderen Seite könnte man das Reizdarmsyndrom nun durchaus als "geheilt" betrachten, da davon ja nun gar nichts mehr übrig ist, um irgendwie die Definitionskriterien zu erfüllen.
Dieses rein akademische Argument, welches mir schon von Ärzten bzw. einem Biologen entgegnet wurde, erübrigt sich für die allermeisten Betroffenen. Denn ob, wie und warum interessiert diese nicht die Bohne. Für uns Patienten mit einer chronischen Darmerkrankung ist nur der klinische Erfolg entscheidend. Verschwinden unsere Bauchsymptome und können wir wieder unbeschwert unser Leben genießen, produktiv arbeiten und unseren Hobbies frönen, sprechen wir von einer Heilung, egal ob unsere Störung nun ein Reizdarm war, oder eben eine Nickeallergie. Der Reizdarm ist komplett verschwunden und das ist gut so!
Das beschnittene Reizdarmsyndrom - Was bleibt?
Doch was ist eigentlich mit den restlichen 25%, bei denen sich trotz sorgfältiger Diagnostik keine anderen Erklärungen finden lassen? Dieser Personenkreis hat das "klassische Reizdarmsyndrom", gekennzeichnet durch verschiedene, inzwischen gut nachgewiesene, Variablen, u.a. eine chronische Dysbalance des Immunsystems mit Aktivierung von u.a. Mastzellen, ausgeprägten Mikroentzündungen, einer Störung der Darmbarriere, einem entgleisten Mikrobiom ("Darmflora" - Artenreichtum und Zusammensetzung sind ungünstig verändert) mitsamt gestörter Kommunikation mit dem Nervensystem (Hirn-Darm-Achse) und veränderten Neurotransmitterkonzentrationen und -verhältnissen (z.B. des Serotonins im Darm). Diese Mechanismen sind in wissenschaftlichen Untersuchungen so evident, dass einige Forscher das Reizdarmsyndrom inzwischen als "chronische entzündliche Darmerkrankung mit der Beteiligung von Mastzellen" bezeichnen (z.B. Philpott und Kollegen, 2011). Die wirklichen (oder eben: klassischen) Reizdarmsyndrome gehören fast ausschließlich zum postinfektiösen Typus, entstanden also nach einem akuten Darminfekt ("Fast alle Reizdarmsyndrome sind postinfektiös" - Cuomo und Kollegen, 2011).
Was bedeutet das nun für die Heilung des wirklichen Reizdarms?
Doch auch das Arbeiten an den typischen Krankheitsmechanismen des "klassischen" oder eben auch "post-infektiösen" Reizdarmsyndroms birgt enorme Möglichkeiten zur symptomatischen Verbesserung und sogar potenziellen Heilung!
Auch hier möchte ich gern einige Beispiele aus der Welt der Wissenschaft zur Illustration anführen:
Beispiel I: Drastische Verbesserungen des Reizdarms mit Glutamin
In einer randomisierten und plazebokontrollierten Studie der Universität New Orleans erhielten Patienten mit einem postinfektiösen Reizdarmsyndrom für acht Wochen entweder Glutamin oder ein Plazebo (Zhou und Kollegen, 2019).
Zentrales Ergebnis:
Das Glutamin normalisierte bereits innerhalb dieser acht Wochen einen der Hauptkrankheitsmechanismen des Reizdarms, die gestörte (zu durchlässige) Darmbarriere. Die Stuhlfrequenz verminderte sich von 5x pro Tag auf 2x Stuhlgang pro Tag, die Stuhkonsistenz normalisierte sich vollständig von wässrigem Durchfall (BSS7) zu einem erwünschten geformten Stuhlgang (BSS3-4). Der Gesamtsymptomscore halbierte sich, so dass die Patienten nicht mehr als schwere Reizdarmfälle, sondern nur noch als "mild" eingeschätzt wurden.
Beispiel II: Den Reizdarm befrieden via Mastzellstabilisation
Ein internationales Forscherteam, an welchem auch die Universität in Heidelberg beteiligt war, widmete sich einem weiteren Hauptmechanismus des Reizdarmsyndroms, den vermehrten bzw. überaktiven Mastzellen, Immunzellen, die durch die übermäßige Freisetzung ihrer Mediatoren (etwa Histamin, Tryptase) entzündliche Prozesse auslösen können (Lobo und Kollegen, 2017). Die Wissenschaftler verabreichten einer Gruppe von Reizdarmpatienten über einen Zeitraum von einem halben Jahr den Mastzellstabilisator Cromoglicinsäure, während sie eine weitere Gruppe von unbehandelten Patienten und eine Gruppe gesunder Personen als Kontrolle nutzte.
Zentrales Ergebnis:
Cromoglicinsäure regulierte zuverlässig und erfolgreich die Aktivierung der Mastzellen und der Immunantwort. Vier von fünf Patienten erreichten während der gesamten Studiendauer eine beeindruckende Schmerzreduktion von über 50%, sowie eine starke Verbesserung der Stuhlkonsistenz und Stuhlfrequenz.
Zum Thema Cromoglicinsäure bzw. Mastzellaktivierung im Rahmen des Reizdarmsyndroms möchte ich hier allerdings gern noch Professor Dr. Martin Raithel, einen der anerkanntesten Experten auf den Gebieten Mastzellaktivierung und chronische Darmerkrankungen, zu Wort kommen lassen. (Zitiert aus diesem Interview des Vereins VAEM)
"Beim RDS mit identifiziertem Trigger, mit oft Mastzellhyperplasie und wenn nach zwei bis drei Jahren Behandlung mit Dinatriumcromoglycinsäure, die Darmbarriere wieder intakt ist, kann man möglicherweise auf eine weitere Behandlung zu verzichten."
Beispiel III: Den Reizdarm heilen durch Stuhltransplantation
In einer absolut faszinierenden Studie aus Norwegen versuchten sich die Wissenschaftler an der Korrektur des beim Reizdarmsyndrom veränderten Mikrobioms (Darmflora-Dysbiose) via der Stuhltransplantation (FMT) von einem "Superspender" in den Darm der Reizdarmpatienten (El-Salhy und Kollegen, 2019). Während dieser randomisierten, doppelblinden und plazebokontrollierten Untersuchung erhielten Patienten mit dem Reizdarmsyndrom entweder 30g oder 60g Stuhl eines zuvor sorgfältig ausgewählten gesunden Spenders, oder ein Plazebo (den eigenen Stuhl).
Drei Monate nach der Stuhltransplantation ließen sich folgende zentralen Ergebnisse verzeichnen:
Das Mikrobiom hatte sich in der Spendergruppe nachhaltig positiv verändert. 89,1% (60g) und 76,9% (30g) reagierten mit einer signifikanten und starken Verbesserung ihrer Darmbeschwerden (Plazebo: 23,6%). Zusätzlich kam es zu einer positiven Beeinflussung sowohl der krankheitsassoziierten Erschöpfung als auch der Lebensqualität der Betroffenen. Die Symptomscores halbierten sich im Durchschnitt (was einem Unterschied vom schweren zum leichten Reizdarmsyndrom entspricht). Mehrere Teilnehmer unterschritten dabei die kritische Grenze zur Reizdarmdiagnose!
Und noch etwas, das Hoffnung macht ...
Du siehst also: Auch ohne das Aufdecken alternativer Krankheiten gibt es jede Menge für dich zu tun und vor allem zu erreichen. Die Heilung (oder eben Remission) des Reizdarmsyndroms ist möglich! Abschließend möchte ich dir gern noch ein Video von mir empfehlen, welches anhand einer Studie demonstriert, wie wir nahezu alle Pathomechanismen chronischer Darmerkrankungen rückgängig machen können (Rangan und Kollegen, 2019).
Was ist jetzt zu tun?
Die recht simple Antwort auf diese Frage ist für meine treuen Leser und Zuschauer überhaupt keine Überraschung, denn diese Prämisse meiner Vorstellung von einer zielgerichteten und damit effektiven Reizdarmbehandlung predige ich schon seit den Anfängen meiner Bloggerzeit:
Ohne eine umfassende, systematische Stufendiagnostik, keine zielgerichtete und effektive Therapie!
Ohne die zielgerichtete Therapie des Reizdarmsyndroms bzw. sich dahinter verbergender Störungen,
keine Heilung!
Es ist also unumgänglich, dass du dich intensiver mit deiner individuellen Krankheitsausprägung und den zugrundeliegenden Krankheitsmechanismen und Triggerfaktoren beschäftigst. Dabei helfen dir u.a. ein vernünftiges Symptomtagebuch, probeweise Ernährungsumstellungen, aber vor allem auch eine qualitativ-hochwertige Labordiagnostik. Mit letzterer ist es möglich, viele der oben beschriebenen Störungsbilder zuverlässig zu erkennen. Für die Diagnostik der meisten von ihnen sind lediglich einfache Blut-, Urin- oder Stuhltests nötig. Aufwendige invasive oder apparative Verfahren sind dabei überflüssig!
Obwohl heute ein Großteil dieser nützlichen Parameter unkompliziert von deinem Gastroenterologen erhoben werden kann (siehe dazu auch die Aussagen von Professor Dr. Martin Storr in meinem Interview) und diese Untersuchungen auch meist von den Krankenkassen erstattet werden, kommt es immer wieder vor, dass Betroffene auf "mauernde" Ärzte treffen. Manchmal halten sie die beschriebenen Tests für überflüssig ("Bei einem Reizdarm reicht ausgewogenes Essen und etwas Entspannung", "Zuviel Diagnostik ist bei einem Reizdarm Unsinn und bringt keinen Nutzen, das sagt Ihnen jede Leitlinie", "Solche Tests können Sie vielleicht bei einem Heilpraktiker durchführen"), ein andermal sind sie von den überwiegend psychischen Ursachen des Reizdarms überzeugt (Du lachst vielleicht nach der Lektüre dieses Artikels und den Infos zu Mastzellen, Mikrobiom etc., aber das ist auch heute noch gar nicht mal so selten, gerade unter Hausärzten - Bradley und Kollegen, 2018). Unter diesen Umständen kann es nötig werden, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Dafür bieten sich einige Labore an, welche ihre Analysen über das Internet vertreiben und inzwischen einen sehr hohen qualitativen Standard erreicht haben. Mit ihrer Hilfe kannst du die Probenentnahmen ganz unkompliziert und bequem in deinem geschützten Zuhause durchführen und per Post an das Labor senden. Die Ergebnisse samt einer Auswertung erhältst du dann per Mail oder Download und kannst dich an die Umsetzung einer entsprechenden Therapie machen. Dazu ist keine Verordnung von deinem Arzt nötig.
Im Folgenden einige Vorschläge für Untersuchungen im Zusammenhang mit den oben vorgestellten Krankheiten und Krankheitsmechanismen.
Laboranalysen für eine zielgerichtete Therapie des Reizdarmsyndroms
Bevor wir starten, noch ein kurzes Geleitwort: Als Betroffener bin ich mir wohl bewusst, dass die in Kürze vorgestellten Analysen Geld kosten und dass du (wie die meisten von uns) schon Unmengen davon in nutzlose "Wundermittel, -kuren und -heiler versenkt hast (Davon kann auch ich ein Liedchen singen). Ich lege bei meiner Arbeit für dich hohen Wert darauf, dass du, unabhängig von deinem finanziellen Status, von meinen Informationen profitieren kannst und empfehle dir deshalb, zuerst alle Möglichkeiten der Diagnostik mit deinem behandelndem Arzt auszuschöpfen. Aber welcher Mediziner veranlasst schon eine DNA-Sequenzierung des Mikrobioms oder einen Histamintest im Stuhl? (Gründe siehe oben!) Leider muss ich auch immer wieder lesen, wie stur und eingefahren manche Ärzte in diesem Bereich sind. Aber genau für diesen Fall haben wir zum Glück auch andere Optionen!
Der Spargedanke greift meiner Einschätzung nach hier zu kurz, denn eine nicht zielgerichtete Therapie mit Supplementen etc. kostet über die Monate und Jahre ebenfalls sehr viel Geld. Eine komplexe Laboranalyse (wie der unten aufgeführte Stuhltest Mikrobiom Plus) kostet um die 250€, kann dir aber ganz neue Erkenntnisse für eine zielgerichtete Therapie liefern. So etwa Hinweise auf das Vorliegen eines Gallensäureverlustsyndroms, einer Schwäche der Bauchspeicheldrüse oder einer gestörten Darmbarriere (->Glutamin). Mit der Verfügbarkeit eines solchen Befundes kannst du dann zielgerichteter, ökonomisch bedachter und vor allem auch effektiver an deiner Heilung arbeiten! Es lohnt sich also wirklich. Dabei spreche ich aus den Erfahrungen sowohl des langjährigen Betroffenen, als auch jenen eines Therapeuten.
1. DNA-Sequenzierung des Mikrobioms und funktionelle Parameter
Der große "Darmmikrobiom Plus" Stuhltest ist eine der umfangreichsten Laboranalysen auf dem deutschsprachigen Markt. Er beinhaltet vor allem die neuere Generation der Mikrobiom- bzw. Darmfloraanalyse mittels DNA-Sequenzierung, welche der lange verbreiteten Stuhlkultur in vielen Aspekten stark überlegen ist. So erfasst das molekularbiologische Verfahren nahezu alle bekannten Darmbakterien (auch anaerobe!) und ermöglicht dadurch erweiterte Aussagen über die Biodiversität, eine mögliche Dysbiose, aber auch schleimhautprotektive Populationen usw.
Weiterhin erhoben werden Pilze und Hefen wie Candida albicans (Dünndarmfehlbesiedlung mykologisch - SIFO), Verdauungsrückstände (Hinweise auf Malabsorption und Malassimilation), Pankreas-Elastase (Mangel an Bauchspeicheldrüsenenzymen), Gallensäuren (Hinweis auf Gallensäureverlustsyndrom), Zonulin (Darmbarriere), Calprotectin (Entzündungen), Alpha-1-Antitrypsin (Darmbarriere) und sekretorisches IgA (darmassoziiertes Immunsystem). Ein Rundum-Paket, das einem ganz neue therapeutische Möglichkeiten eröffnen kann!
2. Nahrungsmittelallergien, IgE-vermittelt
"Allergoscreen Nahrungsmittel plus" ist ein Bluttest zur Bestimmung von IgE-vermittelten allergischen Reaktionen gegenüber Nahrungsmitteln und anderen Allergenen (In der oben zitierten Studie von Drisko und Kollegen spielten auch nicht mit der Nahrung aufgenommene Allergene eine bedeutende Rolle). Die einfache Blutentnahme erfolgt an schnell und einfach an der Fingerkuppe. Getestet wird dann die Konzentration des spezifischen Immunglobulin E gegenüber Tomate, Kartoffel, Sellerie, Hühnereiweiß, Eigelb, Milch, Dorsch/Kabeljau, Krabbe, Garnele, Rinderserumalbumin, a-Lactalbumin, ß-Lactoglobulin, Kasein, Rindfleisch, Hammelfleisch (Lamm), Bäckerhefe, Weizenmehl, Roggenmehl, Reis, Sojabohne, Sesam, Erdnuss, Haselnuss, Mandel, Apfel, Kiwi, Aprikose, einigen Milben- und Tierarten, sowie Pilzen.
3. Histaminrückstände im Stuhl
Ein Histamin-Stuhltest kann einfach und relativ preisgünstig erste Hinweise auf das Vorliegen eines Problems im Histaminstoffwechsel (Überproduktion oder mangelnder Abbau des Gewebshormons und Neurotransmitters) liefern. Erhöhte Werte deuten auf eine massive Dysbiose, ein lokale Mastzellaktivierung im Rahmen des postinfektiösen Reizdarmsyndroms, eine Nahrungsmittelallergie, oder eine Histaminintoleranz (HIT) hin. Diesem ersten diagnostischen Fingerzeig sollten spezifischere Untersuchungen folgen, um die ideale Therapie auszuwählen (DAO-Gabe, Histaminblocker, Mastzellstabilisatoren, histaminarme Kost).
4. Analyse evtl. vorhandener Darmparasiten
Mit diesem Testset kannst du deine Stuhlprobe auf verschiedenste Parasiten untersuchen lassen, wobei sowohl mikroskopische als auch immunologische Verfahren zur Anwendung kommen. Es handelt sich um den umfassendsten Parasitentest, der in Deutschland durchführbar ist. Unter vielen weiteren Erregern wird auch nach den erwiesenermaßen stark mit dem Reizdarmsyndrom assoziierten Parasiten Blastocystis hominis und Giardia lamblia gesucht.
Meine besten Wünsche und eine Bitte an dich zum Schluss
Zuerst einmal hoffe ich, dass dir dieser Artikel gefallen hat und du vielleicht den einen oder anderen Fakt interessant fandest bzw. er für dich neu war! Und natürlich hoffe ich, dass du einige der hier präsentierten Informationen in die Praxis umsetzen kannst, ganz egal, ob du dich nun gemeinsam mit deinem Arzt einer erweiterten Diagnostik stellst, oder du dich mit neu gefasstem Mut und Enthusiasmus an deine Reizdarmtherapie machst! Ich drücke dir von ganzen Herzen alle Daumen für eine baldige Genesung und wünsche dir viel Kraft beim Umsetzen der Therapie in deinen Alltag!
Jetzt noch eine Bitte: Falls du diese Abhandlung in irgendeiner Art und Weise nützlich fandest, gut recherchiert, anregend, oder vielleicht nur diskussionswürdig, dann würde ich mich freuen, wenn du ihn mit anderen Betroffenen teilen könntest. Jeder von uns kennt eine oder gleich mehrere Betroffene, denen der Mut ausgegangen ist, die verzweifelt stagnieren und nach vielen gescheiterten Versuchen mit Ärzten und Heilpraktikern nicht mehr an eine mögliche Besserung, geschweige denn Heilung ihrer Darmerkrankung glauben können. Wenn dieser ellenlange Artikel auch nur einigen dieser armen Seelen die notwendige Kraft verleiht, um sich aus diesem Sumpf zu befreien, dann bin ich ein noch glücklicherer Mann, als ich es ohnehin schon bin. :) Mein größter Wunsch wäre also:
Verbreite bitte die frohe Kunde von der möglichen Heilung des Reizdarms! Danke!
Solltest du mir darüber hinaus etwas Gutes tun wollen, dann kannst du dir sicher vorstellen, wie viele Liter BIO-Espresso in die Recherchearbeit, Tabellengestaltung, Bildbearbeitung und natürlich Tipparbeit für diesen Artikel investiert worden sind. Falls du mir also einen Kaffee für kommende Großprojekte spendieren möchtest, wäre ich dafür auch sehr dankbar (außerdem nimmst du dann automatisch an der nächsten Jahresverlosung teil ...)
So, du kannst es also nicht erwarten und willst deinen Reizdarm möglichst schnell und vollständig heilen?
Abbildungsverzeichnis
Schmulson MJ, Drossman DA. What Is New in Rome IV. J Neurogastroenterol Motil. 2017;23(2):151–163. doi:10.5056/jnm16214
Abb2 + Abb3
Layer P et al. Irritable bowel syndrome: German consensus guidelines on definition, pathophysiology and management. Gastroenterol. 2011, Feb;49(2):237-93. doi: 10.1055/s-0029-1245976.
Abb4
Lobo B, Ramos L, Martínez C, et al. Downregulation of mucosal mast cell activation and immune response in diarrhoea-irritable bowel syndrome by oral disodium cromoglycate: A pilot study. United European Gastroenterol J. 2017;5(6):887–897. doi:10.1177/2050640617691690
Abb5
Rangan P, Choi I, Wei M, et al. Fasting-Mimicking Diet Modulates Microbiota and Promotes Intestinal Regeneration to Reduce Inflammatory Bowel Disease Pathology. Cell Rep. 2019;26(10):2704–2719.e6. doi:10.1016/j.celrep.2019.02.019