Leaky Gut Syndrom I: Was ist unsere Darmbarriere und warum wird sie manchmal durchlässig?

Wissenschaftliche Darstellung der Einflussfaktoren auf das Leaky Gut Syndrom: Darmflora, Stress, Ernährung und mehr.
Einflussvariablen und Folgen der gestörten Darmbarriere: Leaky Gut Syndrom. Entnommen: Kelly et al. (2015). Breaking down the barriers: the gut microbiome, intestinal permeability and stress related psychiatric disorders. Front Cell Neurosci. 9:392.

Das Leaky Gut Syndrom hat inzwischen eine lange und, sagen wir vielleicht, kontroverse Vergangenheit gemeistert. Schon frühzeitig nachdem erstmals die Funktion der Darmbarriere und vor allem auch die Möglichkeit des Zusammenbruches dieses Schutzwalls gegen die gefährliche Außenwelt wissenschaftlich nachgewiesen wurde, etablierte sich das zugehörige Störungsbild - das so genannte Leaky Gut Syndrom - in der Alternativ- und Komplementärmedizin. Schnell wurde es zur Erklärung für sämtliche Zivilisationskrankheiten herangezogen und bescherte den (potentiellen) Patienten viel Angst und Schrecken und einigen therapeutischen und schriftstellerischen Nutznießern volle Taschen. Aus diesem Grund wird die "gestörte Darmbarriere" beziehungsweise der "durchlässige Darm" heute oft in einem Atemzug mit emotional aufgeladenen Begriffen wie Gluten oder Candida albicans und anderen Verdächtigen genannt, welche ganz ähnlich missbraucht wurden und werden. Doch neben ihrer Ausbeutung und Fehlinterpretation durch findige "Heiler" und das "Gesundheitsinternet" verbindet diese und andere ähnliche Begriffe noch ein weiteres Faktum: Es steckt mehr als nur ein Körnchen Wahrheit in jedem dieser Konzepte. Allerdings werden sie leider viel zu häufig aus dem Kontext gerissen (siehe spezifisch für das Gluten bspw. hier) und danach massiv für Vermarktungszwecke instrumentalisiert und meiner eigenen Einschätzung nach - bewusst fehlgedeutet. 

 

Eine der bedeutendsten Verkaufsstrategien vieler dubioser Gesundheitsanbieter ist das Generieren von Angst, nach der Heuristik: "Befolgst du nicht meine Diät A, nimmst mein extra dafür produziertes Supplement B und kaufst nicht mein Online-Coaching C, dann drohen dir nicht nur verschiedenste Autoimmunstörungen wie Multiple Sklerose und Morbus Crohn, sondern auch Krebs und frühzeitiger Alzheimer. Das zeigen auch die Studien X,Y,Z. Willst du, dass deine Kinder auf dich verzichten müssen, weil du heute geknausert hast?" 

Ein großes Problem dabei ist sicherlich, dass sich Studien tatsächlich für nahezu jeden Zweck heranziehen lassen. Zu beinahe jedem Statement lässt sich heute eine passende Studie finden, welche dieses untermauert. Ein kleines Beispiel aus unserem gewählten Kontext gefällig? Omega-3-Fettsäuren, welche vielen von uns für ihre gesundheitsförderlichen Wirkungen bekannt sind, zeigten in einigen Laborversuchen an Epithelzellen eine Begünstigung des Leaky Gut Syndroms. Werden sie aber tatsächlich am lebenden Menschen eingesetzt, entfalten sie genau die gegenteilige Wirkung und schützen unsere Darmbarriere. Nun kommt es darauf an, was man daraus macht. Welche Studie ist aussagekräftiger? Welche Agenda habe ich als Blogger etc?

Nur die wenigsten Menschen sind dazu ausgebildet worden, eine solche Studie kritisch zu hinterfragen und deren Qualitätsaspekte abzuschätzen. Und ganz ehrlich: Ich gebe mir große Mühe, meine auf dem Blog getroffenen Aussagen durch hochwertige Studien zu belegen und verlinke die Originalartikel natürlich auch. Aber von meinen Lesern und Klienten weiß ich auch, dass nur die allerwenigsten einen solchen Link anklicken und die getroffenen Behauptungen prüfen. Das ist problematisch. 

 

Gegen das Marketing mithilfe von Angst hilft nur nüchterne und klare Information und das Bewahren eines kühlen Kopfes.  Aus diesem Grund werden wir uns in inzwischen gewohnter Tradition anschauen, was die aktuelle Wissenschaft zu dem Thema Leaky Gut Syndrom bzw. gestörte Darmbarriere zu sagen hat. Da die Informationen sehr umfangreich und teilweise recht komplex sind, werden wir dies in Form einer kleinen Artikelserie tun.

In diesem ersten Teil soll es darum gehen, die Darmbarriere anschaulich darzustellen und einige Faktoren bzw. Ursachen zu besprechen, welche diese von ihrer wichtigen Funktion abhalten können. Zusätzlich widmen wir uns einigen diagnostischen Möglichkeiten der Feststellung einer evtl. erhöhten Durchlässigkeit der Darmschleimhaut. 

 


Was ist das Leaky Gut Syndrom? Die Stadtmauer-Analogie.

Darstellung der Dreiecksbeziehung zwischen Leaky Gut, Darmflora und Immunsystem.
Zusammenhang zwischen Mikrobiom, intestinaler Durchlässigkeit und Immunsystem der Darmschleimhaut. Entnommen: Bischoff et al. (2014). Intestinal Permeability: new target for prevention and therapy. BMC Gastroenterol. 14:189.

Um unsere regelmäßige und unerlässliche Ernährung zu gewährleisten, mussten wir Menschen und andere Säugetiere ein hoch komplexes und spezialisiertes Verdauungssystem ausbilden. Die gesamte Stabilität dieses faszinierenden Systems wird im Normalfall durch die körpereigene Darmbarriere garantiert. Ihr könnt sie euch vielleicht am ehesten als eine Art mittelalterlicher Stadtmauer mit vielen engen Pforten im Mauerwerk vorstellen. Um unsere Stadt, den eigenen Organismus, aufrecht erhalten zu können, ist es natürlich unerlässlich, dass regelmäßig Nahrung (Kohlenhydrate, Lipide), Trinkwasser, Baustoffe (Aminosäuren) und andere Dinge (Vitamine und Mineralstoffe) hinein gelangen. Diese Prozesse nennen wir Verdauung und Absorption. Nun wäre dies eigentlich kein größeres Problem. Unsere Stadt könnte ruhig und friedlich all die Dinge importieren, die sie braucht, oder? Falsch! Unsere mittelalterliche Stadt befindet sich direkt im Zentrum eines tobenden Krieges. Sie wird permanent von Raubrittern belagert. Bei diesen feindlichen Eroberern handelt es sich etwa um Nahrungsproteine und -Antigene, fremde Mikroorganismen (Darmbakterien), Pathogene wie Pilze, aber auch Toxine wie Lipopolysaccharide. Und diese Feinde sind tatsächlich in gewaltiger Anzahl vorhanden. Doch auch unsere Stadt ist nicht wehrlos. Wir haben nämlich vorbeugend eine große Anzahl von Stadtwachen und Bogenschützen vor unserer Stadtmauer platziert und zwar in Form von Immunglobulinen, Zytokinen und antimikrobiellen Molekülen. Zusätzlich haben wir in weiser Voraussicht einen vorgelagerten Zaun (den Mukus der Darmschleimhaut) installiert, welcher die Angreifer an einem frühen Durchbruch hindern soll. 

An diesem Beispiel können wir gut nachvollziehen, wie fein das Zusammenspiel dieser Faktoren austariert sein muss. Die Aufgabe der Darmbarriere ist gar nicht zu überschätzen: Einerseits muss sie die Versorgung des Organismus mit Nähr- und Baustoffen gewährleisten, andererseits ist es für unsere Gesundheit unerlässlich, dass sie organismusfremde Bestandteile ausfiltert und abgrenzt. 

 

Darstellung der Darmbarriere und ihrer drei Komponenten: physikalisch, biochemisch, immunologisch.
Die Darmbarriere und ihre drei Komponenten. Entnommen: Mu et al. (2017). Leaky Gut as a danger sign for Autoimmune Disease. Front Immunol. 8:598.

Um die Erfüllung der beiden annähernd konträren Aufgaben zu gewährleisten, wagte die Evolution einen enormen und gewagten Spagat. Die physikalische Darmbarriere besteht nämlich lediglich aus einer einzigen Schicht von Epithelzellen (welche wiederum aus neun verschiedenen Zelltypen zusammengesetzt sind). Die Verbindungsräume zwischen den einzelnen Epithelzellen werden durch so genannte tight junctions abgedichtet. Dies sind schmale Bänder aus Membranproteinen, welche sich um die Zellen spannen. Ihre Durchlässigkeit oder Dichtheit (genauer Plastizität) wird durch verschiedene Moleküle gesteuert,  vor allem aber durch Proteine wie Claudin oder Tricellulin. 

 

Um bei unserer Analogie zu bleiben: Nehmen wir an, unsere Stadtmauer gliche keiner der imposanten Burgmauern, wie wir sie uns vielleicht ausgemalt haben, sondern eher einem veralteten germanischen oder slawischen Ringwall aus Holz. Die Bänder aus Membranproteinen können wir uns hingegen gut als Fallgitter vorstellen. Allerdings ist die Vorrichtung zum Herablassen und Öffnen von unserem bereits verstorbenen Mechanikus hochkomplex angelegt worden. Sie kann sich durch verschiedene Fehlsteuerungen aktivieren. Die Fallgitter der Pforten öffnen sich dann ohne unseren Befehl abzuwarten. Ich denke jedem Leser leuchtet ein, was ein solches Szenario für eine belagerte Stadt bedeutet? Egal wie effektiv die zusätzliche Abwehr funktioniert, einige der Angreifer werden in das Innere der Stadt eindringen und dort so viel Chaos stiften, wie sie nur können. Gelangen also die oben angesprochenen Toxine, Antigene und Pathogene durch die Darmbarriere in unseren eigentlichen Organismus, kommt es zu lokalen und systemischen Immunreaktionen.(mehr zu den Folgen und möglichen Symptomen der dysfunktionalen Darmbarriere in den folgenden Artikeln zur Autoimmunität, bzw. zum RDS).

 

Warum lässt sich dieses !?&%$§- Fallgitter nicht schließen? Die Ursachen des Leaky Gut Syndroms.

Foto eines gestressten Mannes, der im Büro hungrig Fast Food verschlingt und damit ein Leaky Gut Syndrom begünstigt.
Stress im Job, Heißhunger, Zucker und viel ungesundes Fett. Willkommen in einer modernen Gesellschaft, welche unsere Darmbarriere zerstört.

Das Leaky Gut Syndrom, also die gestörte oder durchlässige Darmbarriere ist keine eigenständige Krankheit. Auch wenn dieser Eindruck oft von einigen Blogautoren oder Therapeuten erweckt wird, handelt es sich bei einer durchlässigen Darmbarriere nicht um eine eigenständige Erkrankung, sondern eben um ein Syndrom. Ein Syndrom bezeichnet einen Komplex zusammen auftretender Symptome und Mechanismen (bitte vergleicht dies auch mit dem Reizdarmsyndrom oder dem Chronischen Erschöpfungssyndrom). Sehr häufig findet sich die Ursache eines Leaky Gut Syndroms in einem ganz anderen Bereich und vermittelt über individuelle Pathomechanismen (dazu gleich mehr). Es ist also zielführend, die grundlegenden Störungen oder Verhaltensweisen zu behandeln oder zu ändern, welche zu der vermehrten Durchlässigkeit geführt haben. Dazu müssen wir aber die einzelnen Variablen kennen, welche unsere Darmbarriere schädigen.

 

1. Du bist, was du isst! Ernährung und das Leaky Gut Syndrom.

Darstellung der tight junctions und ihrer Funktion beim Schutz der Darmbarriere.
Tight junctions und ihre Steuerung durch Nahrungsmittel-Antigene. Entnommen: De Santis et al. (2015). Nutritional keys for intestinal barrier modulation. Front Immunol. 6:612.

Wir kommen einfach nicht drum herum. Eine gesunde Ernährungsumstellung ist das absolut notwendige Fundament bei allen Autoimmunerkrankungen und gastrointestinalen Leiden. Natürlich sollte man dies allgemeingültig auf andere Krankheiten und auch bezüglich der Prävention ausweiten, aber ein gesunder Körper verzeiht einem gelegentliche Ausnahmen eben deutlich nachsichtiger als ein Organismus mit verschiedenen Vorschädigungen. 

Inzwischen sind zahlreiche Nahrungskomponenten bekannt, welche eine Störung unserer Darmbarriere begünstigen. Am ehesten könnte man die Gesamtheit dieser Faktoren wohl unter dem Oberbegriff "typisch westliche Ernährung - typical western diet" zusammenfassen. 

 

Besonders gut belegt sind die negativen Auswirkungen von Gliadin. Als Gliadin werden alle Reserveproteine des Weizens bezeichnet, welche (im Gegensatz zur Gruppe des Glutenins) in Ethanol löslich sind. Unterformen der Gliadine sind Antigene bei der Zöliakie. Gliadine erhöhen die Permeabilität bzw. Durchlässigkeit der Darmschleimhaut durch einen MYD88-abhängigen Mechanismus zur Freisetzung von Zonulin. Und jetzt bitte aufgepasst: Dieses Phänomen ist unabhängig von einer Zöliakie oder einer Glutensensitivität! Gesunde Menschen zeigen diesen Vorgang also ebenfalls (Hollon et al. 2015).

 

Ein weiteres Problem hinsichtlich der Darmbarriere besteht mit den inzwischen weit verbreiteten ballaststoffarmen Diäten der westlichen Bevölkerung. Aus diesem Grund weise ich auch immer wieder darauf hin, dass eine Ballaststoff- oder auch FODMAP-Reduktion nur zeitweise angewendet oder aber abgepuffert werden sollte. Auch wenn eine solche Reduktion bei der Therapie einer Darmstörung manchmal nicht vermieden werden kann, sollte man diese also nur temporär anwenden. Bezugnehmend auf das Leaky Gut Syndrom konnte nachgewiesen werden, dass eine ballaststoffarme Ernährung die Population des Darmes mit Mikroorganismen fördert, welche die Schutzschicht der Darmbarriere (Muzin - der vorgelagerte Zaun - du erinnerst dich?) quasi zerfrisst. Gelangen nicht genügend Ballaststoffe bzw. Präbiotika in den Darm, dann greifen die Bakterien auf Glykoproteine der Mukusschicht zurück. Die Schwächung der Darmbarriere ermöglicht dann einen verstärkten Eintritt in das Epithelgewebe und vermehrt das Risiko für verschiedene Pathogene und Erkrankungen (z.B. Colitis, s. Desai et al. 2016). 

 

Neben dem Fehlen der wichtigen Ballaststoffe ist die Ernährung der Moderne unter anderem durch ihren hohen Gehalt an Zucker gekennzeichnet. Eine besondere Rolle beim Niederreißen der Darmbarriere scheint hier der Fruchtzucker bzw. die Fruktose zu spielen. Ein vermehrter Fruktoseverzehr (Fruchtzucker bildet u.a. 50% des Haushaltszuckers und findet sich in hohen Mengen in Form von HCFS etc. vor allem in Süß- und Backwaren) begünstigt bakterielle Besiedelungen des Dünndarms und geht mit einer erhöhten Durchlässigkeit der Darmbarriere und einer damit zusammenhängender Endotoxämie einher (Bischoff et al. 2015). 

 

Aufgrund des Missverhältnisses zwischen Kalorien- und Nährstoffdichte unserer modernen Ernährungsformen leiden viele Menschen trotz ständiger Sattheit an Mangelerscheinungen. Viele Mineralstoffe und Vitamine sind unerlässlich für die Integrität der Darmbarriere und somit zur Verhütung oder Behandlung des Leaky Gut Syndroms. Beispielhaft sei hier das Vitamin A angeführt. So wirkt sich ein Vitamin-A-Mangel innerhalb weniger Wochen nicht nur störend auf das Mikrobiom aus, sondern behindert auch die Mukusproduktion und vermindert die Zahl antimikrobieller Peptide (Defensine). Diese Mechanismen führen zu einer deutlichen Leistungsminderung der Darmbarriere (Amit-Romach et al. 2009).

 

Zum Abschluss möchte ich gern noch ein Ergebnis zitieren, welches die oben beschriebenen Faktoren wohl recht gut summiert. Gesunde Versuchspersonen, welche man für einen Monat typisch westlich essen ließ (wenig Ballaststoffe <20g, viel Fett UND Kohlenhydrate) entwickelten ein Leaky Gut Syndrom und zeigten eine ausgeprägte Endotoxämie (Pendyala et al., 2012). 

 

Oder ist es zu viel Stress? Am Ende ist es immer zu viel Stress! Psyche und Leaky gut Syndrom.

Foto einer gestressten jungen Frau vor dem PC. Stress ist einer der Haupteinflussfaktoren auf die Darmbarriere.
Chronischer psychologischer Stress (dazu gehört auch die Bewältigung körperlicher und seelischer Erkrankungen) ist eine der bedeutendsten Ursachen für ein Leaky Gut Syndrom. Auch hier lässt sich die Verbindung zum "western lifestyle" ziehen.

Welches Thema fürchten Darmpatienten am allermeisten? Richtig - STRESS. Und natürlich kann man mir vorwerfen, dass ich darauf aufgrund meiner praktischen Tätigkeit (Psychotherapie mit dem Schwerpunkt Psychosomatik) einen gesonderten Fokus legen würde. Quasi eine Filterblase in der nicht-virtuellen Welt. Doch die wissenschaftliche Evidenz ist eben auch erdrückend. Egal ob Mastzellaktivierung, Veränderungen der Darmflora oder eben auch die Störung der Darmbarriere - bei jedem dieser Hauptkrankheitsmechanismen ist der psychologische Stress ein "Major Player". Doch die Akzeptanz dieser Erkenntnis und vor allem auch die Umsetzung in das praktische Leben stellt viele von uns vor erhebliche Schwierigkeiten, gehören Leistungsfähigkeit, Arbeitsbereitschaft, Motivation und Flexibilität doch zu den Grundtugenden unserer kapitalistischen Gesellschaft. Und ein Zahnrad das knirscht? Das muss ausgetauscht werden! Es ist nichts mehr wert. 

Vielleicht werden wir uns in einigen Jahrzehnten kopfschüttelnd zurückerinnern und uns fragen, wie wir das unseren Körpern nur antun konnten. Es ist noch gar nicht so lange her (z.B. griechische Antike), da wurde die Arbeit noch als lästiges Übel empfunden, was die Menschen von Sport, Spiel, Philosophie und Wissenschaft abhielt. Doch ich schweife ab ... 

 

Psychologische (aber auch körperliche) Stressoren aktivieren sowohl das Sympathische Vegetativum als auch die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse (meist wird die englische Kurzform HPA-axis verwendet).

Das Sympathische Nervensystem reagiert auf psychische Trigger sofort mit einer Umverteilung von Energie in verschiedene überlebenswichtige Organe und Funktionen (Flucht oder Kampf wird vorbereitet. Es kommt zu neuronalen Regulationen der Herzrate und des Blutflusses. Die Nebenniere schüttet vermehrt Katecholamine (Adrenalin und Noradrenalin) aus. Das Renin-Angiotensin-Aldosteron-System wird aktiviert. Ersteres führt dazu, dass durch die Aktivierung von Beta-Adrenorezeptoren mehr Glukose aus dem Darm absorbiert wird, während die zweitgenannte Aktivierung die Salz- und Wasserabsorption im Darm erhöht. Beide Faktoren verändern die interzelluläre Durchlässigkeit. Die Durchlässigkeit der Darmbarriere vergrößert sich (Schäper et al., 2013). Weiterhin werden von durch die Aktivierung der HPA-Achse Glukokortikoide freigesetzt, welche die Wirkung der Katecholamine auf die Darmbarriere noch verstärken.

Am Menschen wurden die Auswirkungen akuter Stressoren auf die Darmbarriere sehr beeindruckend von einer Studie demonstriert. Durch den psychischen Stressor (eine öffentliche Rede halten) erhöhte sich die gastrointestinale Permeabilität deutlich (Vanuytsel et al., 2014). Die Studie hatte aber noch einen anderen interessanten Befund zu bieten: Der Mastzellstabilisator Dinatriumcromoglicinsäure verhinderte diesen Effekt, was für eine Beteiligung der Mastzellen bei der Störung der Darmbarriere bzw. der Entstehung eines Leaky Gut Syndroms spricht. Als hypothetische Verursacher werden verschiedene proentzündliche Mediatoren der Mastzellen diskutiert - u.a. TNF-Alpha. 

 

Chronischer psychologischer Stress hingegen ist für seine Dysregulation des Immunsystems bekannt. Dafür charakteristisch sind Mikroentzündungen, eine verzögerte Wundheilung, eine erhöhte Infektanfälligkeit und eben langfristige Veränderungen der Darmbarriere (De Prunder & Pruinboom, 2015). 

 

Weitere Faktoren des westlichen Lebensstils, welche die Darmbarriere schädigen

Und als ob wir unsere Darmbarriere mit schlechten Essgewohnheiten und einem Leben auf der Überholspur nicht genug malträtieren würden, finden sich noch zahlreiche andere problematische Kandidaten. Dazu gehören:

 

Ein kleines Fazit: Kein Grund zur Panik!

Fassen wir an dieser Stelle vielleicht einmal kurz und bündig das Gelernte zusammen. 

  • Das Leaky Gut Syndrom ist keine eigenständige Erkrankung, sondern ein Komplex aus Mechanismen, welche durch verschiedenste Ursachen ausgelöst werden und sich gegenseitig verstärken können.
  • Grundlage und Namensgeber des Leaky Gut Syndroms ist die gestörte Darmbarriere. Dieser innere Schutzwall schützt unseren Organismus im Normalfall vor Darmbakterien, Pathogenen, Nahrungs-Antigenen und Toxinen.
    • Die Darmbarriere besteht aus drei Strukturen:
      • Physikalische Darmbarriere (Epithelzellen mit tight junctions),
      • Biochemische Darmbarriere (u.a. antimikrobielle Peptide) und
      • Immunologische Darmbarriere (u.a. B-Zellen und T-Zellen unter den Epithelzellen)
  • Die Darmbarriere muss einen heiklen Spagat zwischen zwei unerlässlichen, aber beinahe gegensätzlichen Funktionen gewährleisten. Sie muss den Organismus vor Pathogenen etc. schützen und gleichzeitig Nährstoffe und Baustoffe aufnehmen. Aus diesem Grund muss sie gleichzeitig stabil und sicher, aber eben auch durchlässig sein, was durch Bänder aus Membranproteinen (tight junctions) gewährleistet wird, welche sich um die Epithelzellen schlingen. Verschiedene Mechanismen (v.a. Proteine) können die Plastizität (=Durchlässigkeit) dieser Eintrittsstellen verändern.
  • Verschiedene Faktoren greifen in diesen empfindlichen Regelprozess ein. Dazu gehören: 
    • eine ungesunde Ernährung (Zucker, Alkohol, Gluten, ballaststoffarme Kost)
    • chronischer Stress (Überarbeitung, mangelnde Copingstrategien/Ausgleich, psychische Erkrankungen usw.)
    • verschiedene Medikamente (Antibiotika, Schmerzmittel, Antidepressiva)
    • ein gestörter Wach-Schlaf-Rhythmus
  • Durch die veränderte Permeabilität der Darmbarriere oder das Außerkraftsetzen der anderen Schutzfunktionen (siehe oben) gelangen dann Fremdstoffe und Pathogene in den Organismus, welche nicht für einen Kontakt bestimmt sind. Es kommt zu lokalen und systemischen Immunreaktionen. (Siehe nächste Artikel)

Zugegeben: Beim ersten Lesen dieser Zusammenfassung klingt das Leaky Gut Syndrom tatsächlich sehr bedrohlich. Und dabei habe ich kaum etwas von den Zusammenhängen mit Autoimmunerkrankungen oder auch neuropsychiatrischen Störungen geschildert. Aber beim Durchlesen dieser Zusammenfassung sollten sich bei euch vor allem zwei Dinge im Gehirn festsetzen:

  1. Das Leaky Gut Syndrom ist keine Erkrankung, welche ererbt wird, oder einfach aus dem Himmel fällt. Im Gegenteil. Es ist die Folge bestimmter Verhaltensweisen. 
  2. Diese Verhaltensweisen lassen sich als "typisch westlicher Lebensstil der Moderne" unter einem Oberbegriff fassen. Das Leaky Gut Syndrom ist also eine Folge unserer eigenen täglichen Entscheidungen und kann durch genau diese auch rückgängig gemacht werden. Dazu bedarf es nur zwei Dingen: Wissen und Durchhaltevermögen. 
Wenn wir Angst vor dem Leaky Gut Syndrom haben, dann ist das so, als ob wir uns mit einer Kynophobie einen Rottweiler kaufen. Wir haben uns diese "Erkrankung" erst durch unsere eigenen Entscheidungen eingeladen. Jetzt ist es Zeit, die Verantwortung dafür zu übernehmen. Mein Ausblick auf und Einblick in die Thematik Leaky Gut Syndrom ist wirklich äußerst optimistisch, denn die Wissenschaft bestätigt, dass wir mit kleinen kostenlosen täglichen Entscheidungen sehr viel erreichen können. Wir brauchen weder überteuerte Onlinekurse, noch haufenweise Supplemente (obwohl einige wenige durchaus hilfreich sein können - siehe letzter Artikel dieser Reihe). Am Anfang bildet eine Umkehr der auslösenden Entscheidungen die absolute Basis und ist für die meisten von uns absolut ausreichend. 
  • JA! zu gesünderem Essen (AIP-Paleo, SCD, GAPS, low-FODMAP) mit hohem Ballaststoffanteil, wenig Zucker, nährstoffreich und frei von künstlichen Zusatzstoffen
  • JA! zu Stressmanagementtechniken, Entspannungstraining oder Meditation, Schlafhygiene, spiritueller Praxis, Entschleunigung, Achtsamkeit, Musik, Spaß und Gemeinschaft(!!!)
  • JA! zu moderater Bewegung an der frischen Luft, Krafttraining, Gärtnern, Wandern, Zelten, Pilze und Beeren sammeln, Kompost anlegen, Haustiere halten
  • JA! zu guten Ärzten, Tests auf bspw. Pathogene oder Nahrungsmittelallergien, einem kritischen Abwägen vor dem Einsatz von Medikamenten

 

Habe ich denn ein Problem mit den Fallgittern? Die Diagnostik des Leaky Gut Syndroms.

Inzwischen gibt es einige einfache Untersuchungen, welche dem Arzt oder auch dem Betroffenen selbst die Diagnostik im Rahmen des Leaky Gut Syndroms erleichtern.
Inzwischen gibt es einige einfache Untersuchungen, welche dem Arzt oder auch dem Betroffenen selbst die Diagnostik im Rahmen des Leaky Gut Syndroms erleichtern.

 

Zum Abschluss des ersten Teils unserer kleinen Artikelserie möchte ich dir gern noch einige Hinweise geben, wie du erfährst, ob eine gestörte Darmbarriere für dich persönlich ein Gebiet darstellt, an dem du arbeiten solltest. Leider sind viele Ärzte immer noch nicht mit den Möglichkeiten der Diagnosestellung des Leaky Gut Syndroms vertraut. Aus diesem Grund werde ich abschließend noch einige Tests empfehlen, welche du unproblematisch selbst zuhause durchführen kannst. Denke aber daran, dass du keine Diagnose "Leaky Gut Syndrom" erhalten wirst. Die gestörte Darmbarriere findet sich im Kontext vieler Erkrankungen wieder. Die Erhebung des Syndroms ist aber sinnvoll und nützlich bei der Planung der Therapie.

 

Test Substrat Aussage bezüglich klinisch geprüft
Provokationstests 
Laktulose/Mannitol Urin Durchlässigkeit der Dünndarmschleimhaut

Ja, Standard in der

klinischen Praxis

Laktulose/L-rhamnose Urin Durchlässigkeit der Dünndarmschleimhaut Ja
Cr-EDTA Urin Durchlässigkeit gesamter Darm Ja
Zirkulierende Marker im Blut
Zonulin Blut Zellschäden des Dünndarmepithels Ja
Citrullin Blut Zellschäden des Dünndarmepithels Ja

D-Laktat

Blut Durchlässigkeit gesamter Darm Ja
Marker im Stuhl
Calprotectin Stuhl

unspezifischer Entzündungsmarker Darm,

indirekter Zusammenhang zum Leaky Gut Syndrom

Ja
Zonulin Stuhl Durchlässigkeit gesamter Darm Ja
Alpha-1-Antitrypsin Stuhl Durchlässigkeit der Dünndarmschleimhaut

Ja - Spezifität nicht

geklärt

Wie kann ich mir unkompliziert einen Überblick verschaffen?

Inzwischen bieten mehrere Privatlabore in Deutschland die Auswertung spezifischer und indirekter Marker zum Leaky Gut Syndrom an. Dies läuft unkompliziert ab. Du bestellst das Testset, sammelst bspw. eine Stuhl- oder Urinprobe und versendest diese portofrei an das Labor mit der Deutschen Post. Innerhalb weniger Tage erhältst du die Auswertung. Exemplarisch führe ich unten u.a. den Zonulin-Stuhltest von Medivere Diagnostics an. Es handelt sich um einen Affiliate-Link. Bestellst du den Test über meine Verlinkung, erhalte ich eine kleine Provision. Du unterstützt meine ehrenamtliche Arbeit auf dem Blog und auf YouTube und bezahlst dabei keinen Cent mehr. Natürlich haben auch andere Labore - Biovis, Enterosan etc. ganz ähnliche Angebote. Schau dich einfach mal um.

 

Achtung: Zonulin, Alpha-1-Antitrypsin, Calprotectin sind auch durch den Arzt bestimmbar!

Der "Gesundheitscheck Darm" ist ein Stuhltest, der eine grundlegende Vorstellung von der Darmgesundheit ermöglicht. Geprüft werden neben einer Auswahl anaerober Bakterien und Pathogene (Candida) auch indirekte Leaky Gut Marker wie Alpha-1-Antitrypsin, Calprotectin und sIGA. Weiterhin werden auch Bauchspeichelenzyme und Verdauungsrückstände gescreent.