Ein Jahrzehnt nach dem Glutenhype - Was sagt die Wissenschaft zur Glutensensitivität?

Illustration: Auf was sollte man bei einem Reizdarm verzichten - Gluten, Laktose, Zucker.
Fühlst du dich auch manchmal bei der Auswahl deiner Lebensmittel überfordert? Zahlreiche Bücher und Influencer legen uns Reizdarmpatienten nahe, auf bestimmte Inhaltsstoffe streng zu verzichten. Gluten galt lange Zeit als Oberbösewicht.

Ich weiß es noch, als wäre es gestern gewesen. 2001 veröffentlichte ein Wissenschaftler-Team um Professor Wahnschaffe (FU Berlin) eine Arbeit, welche sich mit "Zöliakie-ähnlichen Besonderheiten in einer Subgruppe von Patienten mit dem Reizdarmsyndrom" auseinandersetzte. In dieser Studie zeigten 35% der untersuchten RDS-Patienten eine genetische Prädisposition für eine Zöliakie und immerhin 30% Zöliakie-assoziierte Antikörper im Blut. Nach einer glutenfreien Kost verminderten sich dann sowohl die Krankheitsmarker, als auch die Stuhlfrequenz. 

Untermauert wurden diese Ergebnisse dann 2007 noch einmal durch Wahnschaffe und sein Team an der Uni Greifswald. In ihrer Studie "Prädiktoren für ein klinisches Ansprechen auf eine glutenfreie Kost bei Patienten mit durchfallbetontem Reizdarmsyndrom" demonstrierten die Forscher nicht nur, dass die Zöliakie-ähnlichen Veränderungen spezifisch für das Reizdarmsyndrom sind (bspw. im Gegensatz zu den chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen), sondern erreichten durch eine sechs Monate andauernde glutenfreie Intervention sage und schreibe eine Erfolgsquote von 60%. Hierbei spreche ich wohlgemerkt nicht von klassischen Definitionen für Responder/Non-Responder, wie sie häufig in pharmakologischen Studien genutzt werden. Tatsächlich reduzierten sich sowohl  der globale Symptomscore (Bauchschmerzen, Blähungen etc.) als auch die Stuhlfrequenz (vorher Durchfall) bis in den Rahmen gesunder Vergleichspersonen. Es ist also gerechtfertigt, von einer Remission oder sogar Heilung des Reizdarmsyndroms zu sprechen!

Diese Befunde wurden inzwischen mehrfach repliziert (u.a. Aziz et al., 2016; Barmeyer et al.,2017; Zanwar et al., 2016). Auch die Mechanismen, welche hinter den durch das Gluten ausgelösten Symptomen beim Reizdarmsyndrom stecken, sind heute teilweise bekannt. So vermitteln u.a. das Enzym MLKK und das Protein Claudin 15 Veränderungen der Darmbarriere (Wu et al., 2017). Auch die gastrointestinale Transitzeit wird durch das Gluten negativ beeinflusst (Vazquez-Roque et al., 2011).  

 

Für Patienten mit einem Reizdarmsyndrom und vorwiegend Durchfall oder gemischter Symptomatik (Durchfall und Verstopfung im Wechsel) gibt es also sehr vielfältige und vor allem wissenschaftlich begründete Argumente, sich einer glutenfreien Diät zu verschreiben. Auch wenn man dabei einige Dinge beachten sollte (Mikrobiom/Bifidobakterien, FODMAPs usw.)

 

Dies predige ich nun schon seit vielen Jahren meinen Klienten mit großem Erfolg. Doch parallel nahm eine Entwicklung ihren Lauf, welche Anwender und vor allem ihre Angehörigen, Ärzte und Ernährungsberater massiv involvierte und verunsicherte ... 

 


Eine neue Erkrankung wird geboren: Die nicht-zöliakieassoziierte-Glutensensitivität (englische Kurzform NCGS)

2013 veröffentlichte eine Expertengruppe aus italienischen und deutschen Wissenschaftlern die bahnbrechende Arbeit "Nicht-zöliakieassoziierte Glutensensitivität - das neue unerforschte Gebiet der gluten-assoziierten Erkrankungen". Eine negative Reaktion auf das Klebeprotein Gluten ohne das Vorliegen einer Zöliakie oder einer Weizenallergie wurde bereits erstmals in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts beschrieben, doch erlebte ab 2010 einen gewaltigen Schub an Forschungsaufwand. Im weiter oben zitierten Artikel definieren die Autoren die NCGS als eigenständige Entität neben Zöliakie und Weizenallergie und provozierten damit die Skepsis (und teilweise harsche Gegenwehr) vieler Gastroenterologen. In den folgenden Monaten passierten zwei ganz erstaunliche Dinge:

  1. Das Konzept einer Glutensensitivität erreichte große Aufmerksamkeit und Akzeptanz unter Patienten, Medienmachern (vor allem den "Sozialen" Netzwerken und progressiven Medizinern, Heilpraktikern etc.
  2. Das gleiche Konzept wurde von einigen Forschern als "unwissenschaftlich" gebrandmarkt, was eine tatsächliche Flut an Gegenöffentlichkeit erzeugte, welche schließlich die Deutungshoheit gewann.

Besondere Aufmerksamkeit erhielt der mit vielen Auszeichnungen geehrte italienische Wissenschaftler Alessio Fasano. Fasano ist Gastroenterologe und Experte für Zöliakie und glutenassoziierte Erkrankungen. Er und sein Team entdeckten im Jahre 2000 das heute vielen Patienten geläufige Zonulin, ein Protein, welches die Durchlässigkeit der Darmbarriere steuert. Auch am oben zitierten Expertenstatement zur NCGS war Professor Fasano maßgeblich beteiligt. Aus diesen Gründen war der Wissenschaftler ein viel und gern gesehener Gast bei funktionellen Medizinern, der Paleogemeinde, den vielen Befürwortern von SCD, GAPS usw. Doch diese Auftritte entwickelten ein Eigenleben, denn natürlich nutzten findige Geschäftsmänner und -frauen die Erkenntnisse des Starforschers auf ihre eigene Weise. So wurde die Hypothese, Gluten verändere die Darmbarriere negativ - was in der Folge die Entwicklung dramatischer Autoimmunerkrankungen begünstige - strategisch zu einem Angstszenario aufgebaut, um Onlineprogramme, Nahrungsergänzungsmittel u.a. Dinge zu verkaufen. Professor Fasano distanzierte sich später in einem Interview deutlich von diesen Tendenzen und versuchte seine Sicht der Dinge darzustellen. Doch die Welle hatte im rasend schnellen World-Wide-Web bereits zu viel Fahrt aufgenommen. Millionen Menschen, welche sich zumeist keinerlei Diagnostik unterzogen hatten, ernährten sich nun glutenfrei und absolvierten teure "Leaky-Gut-Programme". 

 

Der neue "Trend" erreichte seinen Höhepunkt mit der Veröffentlichung von Büchern wie "Weizenwampe" oder "Dumm wie Brot" (obwohl es die Verkaufszahlen-fördernden Buchtitel nicht unbedingt vermuten lassen, wurden sie von einem Kardiologen und einem Neurologen verfasst), welche u.a. auf der Spiegel-Bestsellerliste landeten. Um diesem Drama noch die Krone aufzusetzen, propagierten nun auch noch zahlreiche (vor allem) US-amerikanische Stars und Sternchen einen glutenfreien Lebensstil. Darunter befanden sich Größen wie Ryan Phillippe, Jessica Alba, Miley Cyrus, Katy Perry, Victoria Beckham und viele mehr. Internetforen quollen nun über von Erfolgsgeschichten und unzählige Leidende diagnostizierten sich von da an selbst mit NCGS. Dies wurde auch dadurch erleichtert, dass die Symptome der Erkrankung sehr vielfältig und unspezifisch sind (siehe weiter unten). Von der verstopften Nase, über Durchfall, bis hin zu psychotischen Phasen ist alles dabei.

 

Diese seltsamen Entwicklungen provozierten nun endgültig den Aufschrei der Gegenöffentlichkeit. Kann denn eine solche Modeerscheinung tatsächlich auch nur einen Funken Wahrheit in sich tragen? Die großen Medien von Die Zeit bis ARD stürzten sich nun geradezu auf selbst proklamierte Experten, welche zur besten Sendezeit behaupten durften, wer keine Zöliakie habe, der habe auch kein Problem mit Gluten

Neben dieser pauschalen unbegründeten Ablehnung des Konzeptes NCGS wurden aber auch Studien veröffentlicht, welche neue Fragen aufwarfen. So ist bis heute nicht eindeutig geklärt, ob tatsächlich Gluten oder andere Bestandteile der Getreide (etwa Fruktane oder Amylase-Trypsin-Inhibitoren die Beschwerden) verursachen (siehe bspw. Bardella et al., 2016). Lionetti und Kollegen zeigten zudem in einer Metaanalyse (2017), dass die Symptomquote bei einer Rechallenge-Phase mit Gluten bei NCGS-Patienten extrem heterogen zwischen sieben und 77 Prozent schwankt! Die Autoren zweifeln die Existenz der Erkrankung zwar nicht an, legen aber eine deutlich geringere Verbreitung nahe. Sind die vermuteten zahlreichen Fehldiagnosen eine direkte Folge der Modeerscheinung glutenfrei, welche sowohl Mediziner als auch Patienten beeinflusste?

 

Der Sieg der Gegenöffentlichkeit: Keine Zöliakie - Kein Problem mit Gluten

Inzwischen hat sich die lautere und besser in Szene gesetzte Gegenöffentlichkeit durchgesetzt. Gibt es denn bessere Kampfplätze als die öffentlich-rechtlichen Medien, oder die großen landesweiten Tages- und Wochenzeitungen? Interessanterweise kamen die eigentlichen Experten, welche die "Wahrheit der Mitte" vertraten nun gar nicht mehr zu Wort. Ob man gegen eine laute und schrille Modeerscheinung ebenso laut und schrill antreten muss? Ob es die Verkaufs- und Klickzahlen massiv fördert, wenn man auf undifferenzierte, schlichte Botschaften setzt? Ich weiß es nicht ... 

 

Auf jeden Fall wurde aus einer Erkrankung, welche schätzungsweise 6% der Bevölkerung betrifft und eng mit einigen medizinischen Syndromen verwoben scheint (Reizdarmsyndrom, Fibromyalgie und andere) zuerst ein Allheilmittel und ein "Lebensstil" für alle Menschen dieser Erde und schließlich eine bloße Erfindung einiger geldgieriger Pseudomediziner, denn: "Wer nicht von einer Zöliakie betroffen ist, hat auch kein Problem mit Gluten!"

 

Und so, wie der Anti-Gluten-Hype die Patienten befeuerte, so stachelte die Gegenbewegung Ärzte und soziales Umfeld an. Was glaubt ihr, wie viele meiner Klienten den oben geschriebenen Satz wörtlich um die Ohren geschleudert bekamen. Der Cousin wusste bescheid, weil er ja kürzlich erst ein Statement auf ARD gesehen hatte. Die Oma isst schon seit 90 Jahren Brot und hatte noch nie Probleme. Der Hausarzt meint, dass es nur Zöliakie und Weizenallergie gibt, alles andere sei ein Märchen ... 

Das Traurige ist also, dass mit Mode und Gegenbewegung auch das Wissen um die tatsächlichen Faktoren beim Reizdarmsyndrom, der Fibromyalgie, dem Autismus usw. verschwanden. Immer wieder werde ich von Lesern und Zuschauern angeschrieben: "Sag mal, ist das eigentlich noch aktuell, was du damals geschrieben hast? Da gab es doch so viele Ärzte, welche sich dagegen ausgesprochen haben", oder auch "Ich würde das so gerne ausprobieren, aber meine Familie meint, dass das überhaupt nicht medizinisch begründet sei. Wie kann ich sie denn vom Gegenteil überzeugen?"

 

Aus diesem Grund werden wir uns jetzt  mit den aktuellen Erkenntnissen zur Glutensensitivität NCGS im Jahre 2018 beschäftigen und damit Professor Fasano und anderen Pionieren unseren Tribut zollen. Orientieren werden wir uns dabei an einer druckfrischen Arbeit aus Norwegen von Dale und Kollegen (2018).

 

Wer übrigens an der komplexen Meinung von Pionier Professor Fasano höchstselbst interessiert ist, dem sei sein tolles Buch ans Herz gelegt.

Die drei gluten-assoziierten Erkrankungen

Seit der Etablierung agrikultureller Techniken ab zirka 9000 Jahren vor unserer Zeitrechnung beeinflussten verschiedene Getreideerzeugnisse maßgeblich unsere Nahrungsgewohnheiten. Eine ganz besondere Rolle spielt dabei auch heute noch der Weizen, welcher sowohl in den Industrie, als auch in den Entwicklungsländern bis zu 50% der Energiebilanz des Menschen deckt. Dies lässt sich u.a. durch den hohen Anbauertrag, aber auch die günstigen Koch- und Backeigenschaften dieser Getreidesorte erklären. So findet sich der Weizen in unserer täglichen Ernährung in unterschiedlichster Form. Von Brötchen und Brot, über  Nudeln, Kuchen, Pizza, Keksen bis hin zu den meisten Süßwaren. Weizen enthält Kohlenhydrate (zirka 60%), Fette (1-2%), Wasser und Proteine (10-14%). Zu den letzteren gehört eine Mixtur aus hunderten verschiedenen Proteinen, welche unter dem Oberbegriff Gluten firmieren. Die Mixtur spaltet sich noch einmal in zwei verschiedene Proteinkomplexe namens Gliadin und Glutenin. Das Weizengluten ähnelt sehr stark den Proteinen in anderen Getreidesorten (etwa Gerste und Roggen). Deshalb werden diese eigentlich verschiedenen Proteine oft zusammenfassend als Gluten bezeichnet

 

Der Verzehr glutenhaltiger Getreide ist in den letzten Jahren massiv eingebrochen (10 bis 20%). In den USA kauft jeder fünfte Verbraucher jetzt schon glutenfreie Produkte. Dieser Trend folgte ersten Forschungsergebnissen, welche das Gluten mit verschiedenen Beschwerden (Bauchschmerzen, Durchfall, Reizmagen, Depressionen, Gelenkschmerzen u.a.) in Verbindung brachten. 

 

Die Zöliakie

Die Zöliakie ist eine immunogen vermittelte, den Dünndarm betreffende chronische Enteropathie. Ausgelöst wird sie durch den Verzehr von Gluten bei genetisch prädisponierten Personen. 

 

Für das Entwickeln einer eigentlichen Zöliakie müssen also zwei Bedingungen erfüllt sein. 95% der Betroffenen sind Träger des Humanen Leukozyten Antigens (HLA) DQ2/8. Obwohl Gluten sowohl von Menschen mit als auch ohne Zöliakie nur schlecht verdaut werden kann, trifft es erstere deutlich schlimmer. Glutenpeptide treten in die Submukosa des Dünndarms ein und werden von einem Enzym namens Transglutaminase 2 desaminiert. Die so veränderten Glutenpeptide binden nun an die HLA-2/8 Moleküle. Nun werden T-Lymphozyten aktiviert und geben entzündliche Botenstoffe wie Interferon-Gamma, TNF-Alpha und Interleukin-2 frei. Diese Zytokine schädigen die Enterozyten und sorgen für die charakteristischen Läsionen der Darmschleimhaut.

 

Die globale Betroffenenquote liegt bei knapp 1%. Einige nordeuropäische Länder übertreffen diesen Wert jedoch. Zu den klassischen Symptomen der Zöliakie gehören Durchfall, Fettstuhl, Bauchschmerzen, Wachstumsverzögerungen und Gewichtsverlust. Über die Hälfte der Betroffenen klagt allerdings auch über "sekundäre Symptome" wie Erschöpfung, Anämie, Osteoporose, neurologische Beschwerden, Depressionen und Unfruchtbarkeit

 

Die Diagnose erfolgt durch die Auswertung spezifischer Marker im Serum (Endomysium-Antikörper, Transglutaminase-Antikörper und desaminierte Glutenpeptide). Diese müssen allerdings durch eine Spiegelung des Dünndarms untermauert werden, bei welcher sich u.a. die Atrophie der Mikrovilli zeigen sollte. 

 

Die Einhaltung einer glutenfreien Kost ist für Zöliakiebetroffene unumgänglich. Halten sie sich nicht an die diätetischen Vorgaben, erkaufen sie diesen Irrtum neben zahlreichen Beschwerden mit einer erhöhten Mortalität. Aktuell befinden sich Medikamente in den Versuchsreihen, welche es den Patienten erlauben sollen, kleinere Mengen Gluten ohne negative Konsequenzen zu verzehren. 

 

Die Weizenallergie

Die Weizenallergie ist eine Immunglobulin E - vermittelte (Soforttyp) allergische Reaktion auf die Proteine des Weizens.

 

Aufgrund der strukturellen Ähnlichkeit erfolgt diese Reaktion meist auch gegen andere Getreideproteine. Wird das Gluten mit der Nahrung aufgenommen, finden sich die typischen Zeichen einer Nahrungsmittelallergie - Durchfall und Blähungen, Hautausschläge, respiratorische Beschwerden.

Die weltweite Betroffenenquote liegt bei etwa 4%, wobei Kinder deutlich häufiger betroffen sind als Erwachsene und dieser allergischen Erkrankung sogar "entwachsen" können. Diagnostiziert wird die Weizenallergie durch den Nachweis des spezifischen Immunglobulin E gegen Weizen im Serum oder während einer gastrointestinalen Lavage direkt auf der Darmoberfläche.

 

Zur Kontrolle der Beschwerden ist, wie auch bei der Zöliakie, eine dauerhafte und ausnahmefreie glutenfreie Diät nötig. 

 

Die Glutensitivität (NCGS)

Bevor wir in das eigentliche Thema einsteigen, noch einige kurze Sätze zur Terminologie. Im englischen Sprachraum finden wir zumeist den Begriff der non-celiac-gluten-sensitivity (NCGS). Im deutschsprachigen Raum liest man zuweilen von einer Glutensensitivität (wird auch von mir meist genutzt), aber auch von einer Glutensensibilität. Beide Begriffe kennzeichnen das selbe Phänomen. In einzelnen Publikationen wird der eingedeutschte Begriff mit NZGS abgekürzt, häufiger bleibt man aber im Englischen (s.a. Chronisches Erschöpfungssyndrom - CFS). Aufgrund einiger Forschungsergebnisse, welche nahelegen, dass nicht nur Gluten für die Beschwerden verantwortlich sein könnte, wurde auch der breitere Begriff der Weizenproteinintoleranz diskutiert, welcher bspw. auch Amylasetrypsininhibitoren umfasst.

 

Glutensensitivität wird als Syndrom definiert, welches durch gastrointestinale und extraintestinale Symptome gekennzeichnet ist, welche durch den Verzehr von Gluten ausgelöst werden. Um die Diagnose zu erhalten, dürfen die Patienten nicht unter einer Zöliakie oder einer Weizenallergie leiden. Auch heute noch wird diskutiert, ob sich das Konzept der Glutensensitivität tatsächlich vom Reizdarmsyndrom und zugehörigen Erkrankungen wie dem Chronischen Erschöpfungssyndrom, der Fibromyalgie etc. klar trennen lässt, oder ob es sich um einen spezifischen Krankheitsmechanismus innerhalb dieser definierten Gruppe handelt. 

 

Die zugrundeliegende Pathophysiologie der Glutensensitivität

Definierte man die Krankheitsmechanismen der Glutenintoleranz NCGS früher lediglich über das Fehlen der typischen biochemischen Vorgänge bei Zöliakie und Weizenallergie, sind heute auch spezifische pathophysiologische Muster bekannt.
Definierte man die Krankheitsmechanismen der Glutenintoleranz NCGS früher lediglich über das Fehlen der typischen biochemischen Vorgänge bei Zöliakie und Weizenallergie, sind heute auch spezifische pathophysiologische Muster bekannt.

Bis vor einigen Jahren wusste man über die Pathophysiologie der Glutensensitivität NCGS nur, dass sich eben nicht die für die Zöliakie und Weizenallergie typischen Immunprozesse und allergischen Reaktionen finden lassen. Heute sind einige der biochemischen Krankheitsmechanismen gut bekannt. Leider wird durch eine hohe Heterogenität der Versuchspersonen (Wer ist eigentlich tatsächlich von einer NCGS betroffen?) eine stärkere Verifizierung der Hypothesen erschwert. 

 

Zu den am häufigsten replizierten Ergebnissen gehören auf jeden Fall Veränderungen der gastrointestinalen Genexpression. So finden sich verstärkte Expressionen für Claudin-15 und Claudin-4. In der Folge kommt es zu einer Herabregulation von FoxP3 und zu einer ebenfalls verstärkten Expression vom toll-ähnlichen- Rezeptor 2. Dies weist darauf hin, dass im Gegensatz zur Zöliakie das angeborene intestinale Immunsystem bei der Glutensensitivität eine bedeutende Rolle spielt

 

Eine weitere Untersuchung unterstreicht den Zusammenhang mit Endotoxinen, genauer Lipopolysacchariden (LPS). LPS befinden sich in der Zellmembran gram-negativer Bakterien. Sie können die Darmmukosa schädigen und permeabel machen. Dieser Vorgang wurde bei Patienten mit einer Glutensensitivität beobachtet und für die Erklärung der systemischen Immunaktivierung und festgestellten Zellschädigung herangezogen. Vermehrte Antikörper gegen LPS wurden übrigens auch beim Reizdarmsyndrom und dem Chronischen Erschöpfungssyndrom gemessen, was ein integratives Verhältnis der Krankheitsbilder nahelegt.

 

Den Amylasetrypsininhibitoren (ATI) wird ebenfalls  eine Triggerwirkung bei der NCGS unterstellt. ATIs sind Proteine des Weizens, welche als natürliche Pestizide fungieren. Sie können den toll-ähnlichen Rezeptor 4 in gastrointestinalen Monozyten und Makrophagen aktivieren, wodurch es zur Freisetzung proentzündlicher Chemokine und Zytokine kommt. Dieser Mechanismus könnte eine dauerhafte Aktivierung des angeborenen Immunsystems bei der Glutensensitivität erklären. ATIs koexistieren mit dem Gluten in einer Art Netzwerk. Verzichtet man auf Gluten, hat man gleichzeitig auch die Amylasetrypsininhibitoren gemieden.

 

Die Prävalenz der Glutensensitivität

Die Betroffenenquote lässt sich für die Glutensensitivität nur schwer abschätzen. Viele Betroffene haben sich selbst diagnostiziert und es ist dabei nicht geklärt, welche Rolle Plazebo- und Nozeboeffekte spielen. Die Wissenschaftler sind sich allerdings einig, dass eindeutig mehr Menschen von einer NCGS betroffen sind, als von einer Zöliakie (1%) oder der Weizenallergie (4%). Eine oft berichtete Zahl geht von 6% der Bevölkerung aus, die höchste ermittelte Quote liegt bei 13%. Besonders stark betroffen sind Frauen und junge Erwachsene. Patienten mit der Glutensensitivität tragen häufiger die genetische Prädisposition für eine Zöliakie (HLA-DQ2/8) als gesunde Vergleichspersonen

 

Die Symptome der Glutensensitivität

Die Beschwerden der Glutensensibilität sind oft dem Reizdarmsyndrom sehr ähnlich. Die Betroffenen klagen über Durchfälle, Bauchschmerzen und Blähungen. Allerdings berichten sie auch häufiger von extraintestinalen Symptomen.
Die Beschwerden der Glutensensibilität sind oft dem Reizdarmsyndrom sehr ähnlich. Die Betroffenen klagen über Durchfälle, Bauchschmerzen und Blähungen. Allerdings berichten sie auch häufiger von extraintestinalen Symptomen.

Die am häufigsten kommunizierten Beschwerden bei der Glutensensitivität gleichen im allgemeinen denen des Reizdarmsyndroms. Die Betroffenen klagen über Durchfall, Bauchschmerzen, Blähungen, Verstopfung, Flatulenz, Übelkeit und Sodbrennen. Zu einem großen Teil finden sich aber auch extraintestinale bzw. systemische Symptome wie Kopfschmerzen oder Migräne, Gelenkschmerzen, Erschöpfung, Depressionen, Angststörungen, Konzentrationsstörungen, Denkstörungen, Wortfindungsstörungen, Schlafstörungen, Gewichtsverlust und Schweißausbrüche. Eine besondere Erwähnung verdient auch der große Zusammenhang mit Veränderungen des Hautbildes. Diese lösen sich mit dem Befolgen einer glutenfreien Kost oft vollständig auf. 

 

All diese Beschwerden treten meist kurzfristig nach dem Verzehr glutenhaltiger Nahrungsmittel auf, wobei die Dauer zwischen wenigen Stunden und mehreren Tagen schwanken kann

 

Viele Studien legen inzwischen auch einen engen Zusammenhang zwischen Gluten und neuropsychiatrischen Erkrankungen nahe. Dies ist vor allem für den Autismus und die Schizophrenie gut belegt. Vermutet wird dabei, dass die Glutenpeptide durch die nun permeable Darmbarriere gelangen, die Blut-Hirn-Schranke überwinden und im Gehirn mit Opioidrezeptoren interagieren. So beeinflussen sie unser Verhalten und verursachen evtl. Neuroinflammation. In diesen interessanten Komplex gehört auch die Fähigkeit des Glutens, die Serotoninproduktion zu beeinflussen. Dieser Neurotransmitter ist eng mit verschiedenen psychischen Erkrankungen verbunden (v.a. Angststörungen und Depressionen). 

 

Die Diagnostik und Therapie der Glutensensitivität

Die Diagnosestellung der NCGS stellt die behandelnden Ärzte und auch uns Betroffene vor ein großes Problem. Es mangelt an standardisierten und in der gastroenterologischen Praxis durchführbaren Tests. Denn natürlich ist eine Bestimmung der Genexpression oder der Nachweis von LPS-Antikörpern nur Studien vorbehalten, wobei letzterer Marker ohnehin zu unspezifisch ist.

So muss sich bisher auf eine Kombination verschiedener Parameter und die Anamnese des Patienten verlassen werden. Im Folgenden möchte ich das diagnostische Vorgehen bei einer vermuteten Glutenintoleranz kurz beschreiben:
  1. Der Patient klagt über typische Beschwerden wie Durchfall, Bauchschmerzen, Hautausschläge, Depressionen und Kopfschmerzen und bringt diese mit Getreideverzehr in Verbindung. 
  2. Der behandelnde Arzt veranlasst ein Screening bezüglich der Endomysium- und Transglutaminase- Antikörper und Gesamt-Immunoglobulin-E, um eine Zöliakie oder eine Weizenallergie auszuschließen. 
  3. Sind die Werte erhöht, erfolgt eine Spiegelung samt Biopsie des Dünndarms bzw. ein Allergoscreen. 
  4. Liegen keine Zöliakie und keine Weizenallergie vor, kann weitergeforscht werden. Mögliche Hinweise geben die genetische Prädisposition HLA-DQ2/8 und der Immunoglobulin-G-Wert gegen Gliadin (IgG AGA). Beide Marker sind jedoch nicht zu 100% aussagekräftig. Positive HLA-DQ2/8-Ausprägungen finden sich auch in der Allgemeinbevölkerung ohne Symptome (wenn auch seltener), während die Anti-Gliadin-Antikörper auch bei Lebererkrankungen und dem Reizdarmsyndrom erhöht sein können. Sie sind jedoch als Hinweisschilder zu interpretieren. 
  5. Es erfolgt eine glutenfreie Kost mit Symptomtagebuch. Es kommt zu einer starken Besserung der Beschwerden.  Der heutige Goldstandard wäre nun eine doppelblinde plazebokontrollierte Rechallengephase, bei welcher der Patient erkennen muss, wann er Gluten bzw. Traubenzucker in Kapseln zu sich nahm. Gelingt dies, wird die Diagnose NCGS gestellt.
 Hier sieht man, wie schwierig es ist, die Diagnose tatsächlich zu verifizieren. Vor allem die doppelblinde Rechallengephase wird nur in Settings einer groß angelegten Studie umgesetzt und ist für praktizierende Ärzte kaum machbar. Viel eher erfolgt nach ersten Vermutungen oder eben erhöhten AGAs eine probeweise glutenfreie Kost. Bessern sich die Symptome, behalten die Patienten ihre Diät zumeist bei und sprechen von der Diagnose Glutenintoleranz oder NCGS. 

 

Die Therapie der NCGS ist ein Verzicht auf Gluten in Nahrungsmitteln. Dabei gelten aber noch viele Dinge als ungeklärt. So weisen einige Forscher die Patienten an, Gluten wie ein Zöliakiebetroffener komplett zu meiden (auch auf Kreuzkontaminationen achten), während andere Wissenschaftler vermuten, dass die individuelle Verträglichkeit starken Schwankungen unterworfen ist. Auch die Dauer der glutenfreien Intervention ist umstritten. Es ist nicht abschließend geklärt, ob die Betroffenen die Diät lebenslang einhalten müssen, oder ob es, sollte die LPS-Hypothese zutreffen, möglich wäre, nach einer gezielten Regeneration der Darmbarriere wieder Gluten zu vertragen. Hier ist noch viel Forschungsarbeit vonnöten.

 

Die drei glutenassoziierten Erkrankungen in der Übersicht

  Zöliakie Weizenallergie

Glutensensitivität

NCGS

Prävalenz 1% 4% 

unbekannt,

Schätzungen 6%

Symptome nach

Glutenverzehr

Tage bis Wochen Minuten bis Stunden Stunden bis Tage
Pathogenese

Autoimmunität

IgE-vermittelte allergische

Reaktion

unbekannt, Vermutet:

Beteiligung des angeborenen

Immunsystems

Antikörper

IgA EMA

IgA tTG

IgA DGP

IgE gegen Weizen IgG AGA
Enteropathie nahezu immer vorhanden nicht vorhanden nicht vorhanden
Genetik

95% HLA-DQ2/8

unbekannt, keine HLA-DQ2/8-

Beteiligung

>50% HLA-DQ2/8
Diagnostik

Biopsie

Antikörper

Serum IgE

Prick-Test

Zöliakie/WA ausgeschlossen

glutenfreie Kost mit Rechallenge

evtl. IgG AGA

Dauer der Diät lebenslang unbekannt, Remission möglich unbekannt

Aktuelle Evidenz für und gegen das Konzept NCGS

Studie Typ

Testmaterial &

Plazebo

Dauer der Rechallenge Ergebnis

 Biesiekierski et al.

2011, Australien

Doppelblinde 

plazebokontrollierte

Rechallenge (DPCR)

Brot & Muffin: 16g Gluten/d vs.

glutenfreie Versionen 

6 Wochen

signifikant größere gastrointestinale

Beschwerden und verstärkte Müdigkeit mit Gluten

Peters et al.

2014, Australien

DPCR, Crossover 16g Gluten/d vs. 16g Whey/d. vs. Plazebo 3 Tage

vermehrte depressive Verstimmung

durch Glutenchallenge

DiSabatino et al

2015, Italien

DPCR, Crossover

Kapseln mit Mehl: 7-9g Gluten/d vs. Kapseln mit

Stärke

1 Woche

signifikanter Anstieg intestinaler und extraintestinaler Beschwerden unter

Gluten, aber nicht unter Plazebo

Zanini et al.

2015, Italien

DPCR, Crossover Mehl: 7-9g Gluten/d vs. glutenfreies Mehl 10 Tage 34% erkannten nach dem Crossover den Unterschied zwischen Gluten und Plazebo

Skodje et al.

2018, Norwegen

DPCR, Crossover Müsliriegel: 5-7g Gluten/d vs. glutenfreier Riegel mit oder ohne Fruktan 7 Tage keine signifikanten Unterschiede für glutenhaltig vs. glutenfrei; aber signifikante Verschlimmerung der Symptome unter Fruktanexposition

Dale et al,

2018, Norwegen

DPCR, Crossover Muffin: 11g Gluten/d vs. glutenfreier Muffin 4 Tage 20% erkannten auch unter Mehrfachtestung zielsicher Gluten und Plazebo

Wie sieht das Fazit neuerer Metaanalysen aus?

Die oben beschriebenen Studien lassen ja eher auf eine gemischte Evidenz schließen. Die Effekte des Gluten in den doppelblinden Rechallenge-Phasen sind zwar nachweisbar und meist auch signifikant, aber die Betroffenenquote ist oft erheblich niedriger als angenommen. So genannte Metaanalysen sind statistische Auswertungen, welche viele hochqualitative Studien in ihre Analyse einfließen lassen. Durch diesen Prozess der vorherigen Selektion und der größeren Versuchspersonenzahlen erreicht eine solche Metaanalyse einen deutlich höheren Aussagewert und kann als eine Art Königsweg der Wissenschaft gelten. Zum Thema Glutenintoleranz liegen inzwischen zwei verschiedene Metaanalysen vor. 

 

Lionetti und Kollegen werteten 2017 elf Studien zum Thema Glutensensitivität und Glutenchallenge aus. Sie ermittelten eine Quote von 30% der Versuchspersonen, welche tatsächlich auf das Gluten reagierten. Die Autoren schlussfolgern, dass die Prävalenz der NCGS vermutlich deutlich niedriger liegt als bisher angenommen und das strengere Kriterien die Vorhersagekraft verbessern helfen können. 

 

Molina-Infante und Carrocio beschäftigten sich 2017 ebenfalls mit der NCGS. Bei ihrer Analyse von zehn qualitativ-hochwertigen Studien ermittelten sie lediglich eine Quote von 16%. Dabei überraschte noch mehr, dass 40% von diesen auch eine negative Reaktion auf ein Plazebo gezeigt hatten

 

Probleme mit der Evidenz

Einzelne RCTs und Metaanalysen zeichnen ein sehr heterogenes Bild der Diagnose NCGS mit Reaktionen auf Gluten in 7-77% der bereits diagnostizierten Personen. Aus verschiedenen Gründen sind diese Daten jedoch problematisch.
Einzelne RCTs und Metaanalysen zeichnen ein sehr heterogenes Bild der Diagnose NCGS mit Reaktionen auf Gluten in 7-77% der bereits diagnostizierten Personen. Aus verschiedenen Gründen sind diese Daten jedoch problematisch.

Die oben beschriebenen Studien und auch Metaanalysen haben ein größeres Problem mit ihrer Validität. 

Betrachtet man die Daten nur oberflächlich, könnte man davon ausgehen, dass die Glutensensitivität zwar existiert, aber nur in einem ganz geringen Prozentsatz der bereits diagnostizierten Personen tatsächlich nachweisbar ist. So erkannte in der strengen Studie von Dale et al (2018) mit Mehrfachtestung und Crossover nur jeder Fünfte diagnostizierte NCGS-Patient treffsicher Plazebos und Gluten. Allerdings hinterfragen die Autoren auch gleich selbst die Sinnhaftigkeit und Angemessenheit dieser Methode für die Diagnosestellung. Der Hintergrund: Patienten mit NCGS, welche ihre Beschwerden schon erfolgreich mittels einer glutenfreien Kost kontrollierten zeigen einen gewaltigen Nozebo-Effekt. Die Patienten wissen, dass ihnen Gluten vermutlich nicht bekommt und erfahren, dass ihre Diagnose getestet werden soll. Der Nozebo-Effekt erzeugt nun negative Symptome in Erwartung der Wirkungen des Glutens und einer gesteigerten Beobachtung. Folglich ist in vielen Studien keine klare Trennung zwischen Gluten und Plazebo möglich. 

 

ATI, Fruktane, Gluten ... Auf Wiedersehn!

Zahlreiche der Studien weisen nicht nur darauf hin, dass es tatsächlich Reaktionen auf Gluten gibt, welche nicht durch eine Zöliakie oder Weizenallergie vermittelt sind. In vielen der Untersuchungen konnte auch gezeigt werden, dass auch andere Bestandteile glutenhaltiger Getreidesorten bei der Provokation intestinaler und gastrointestinaler Beschwerden eine Rolle spielen. Vor allem Fruktan (ein kurzkettiges schwer verdauliches Kohlenhydrat - FODMAP) und die Amylasetrypsininhibitoren stehen zur Diskussion. 

Für die Betroffenen ist diese akademische Diskussion jedoch nicht zielführend. Den Großteil des täglich aufgenommenen Fruktans führen wir über glutenhaltige Getreidesorten zu. ATIs kommen immer in einem Netzwerk mit Gluten vor. 

 

Ernähren wir uns glutenfrei, meiden wir tatsächlich gleich alle drei Faktoren, welche im Verdacht stehen, die Beschwerden der NCGS oder eben auch der Weizenproteinintoleranz auszulösen. 

 

Ich kann ehrlich gesagt nicht verstehen, warum sich die Gemüter so an dem Wörtchen Gluten erhitzen. Folge ich der low-FODMAP-Diät werde ich ebenfalls weitgehend glutenfrei essen (mit Ausnahme von Dinkel vielleicht). Was spielt es für das Umfeld für eine Rolle, ob ich nun auf Fruktane, Gluten oder ATIs verzichten muss? Ist es nicht viel erheblicher, dass glutenhaltige Getreidesorten gleich drei hochproblematische Bestandteile für uns beinhalten? Dann ist es wohl sinnvoll, drei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen ...

 

Meine abschließenden Empfehlungen und Gedanken

Rund um das Konzept der Glutensensitivität bleiben noch viele Fragen offen. Sicher ist aber, dass es eine dritte Entität der glutenassoziierten Erkrankungen gibt. Vermutlich liegt die Betroffenenquote jedoch deutlich niedriger als bisher angenommen, oder andere Faktoren spielen ebenfalls eine Rolle (ATI, Fruktan, ?). Studien zeichnen ein sehr heterogenes Bild in der Gesamtpopulation mit NCGS. Anders verhält es sich aber in der Subgruppe von Patienten mit einem Reizdarmsyndrom. Hier zeigen Studien konsistent, dass der Verzicht auf Gluten sich positiv auf die Beschwerden auswirkt. 

Einige Pathomechanismen der Glutenintoleranz sind inzwischen aufgedeckt worden: So finden sich Änderungen der Genexpression, eine Beeinflussung der Transitzeit, eine gestörte Darmbarriere (Gluten und LPS) usw

 

Meiner Meinung nach gibt es als Reizdarmpatient keinen vernünftigen Grund, es nicht einmal mit einer glutenfreien Kost zu versuchen, welche man ja auch prima mit der low-FODMAP-Diät kombinieren kann. Auch einen weiteren Grund möchte ich noch anführen. Wir wissen heute, dass die Mastzellen eine besondere Rolle beim Reizdarmsyndrom spielen. Mastzellexperten wie Professor Molderings empfehlen die Meidung von Gluten und Kasein in den ersten Wochen der Behandlung einer Mastzellaktivierung, da diese das Immunsystem weiter stimulieren. Ganz ähnlich würde meine Empfehlung bei "verwandten" Diagnosen wie Chronisches Erschöpfungssyndrom oder auch Fibromyalgie ausfallen. Für nicht von diesen Krankheiten betroffene Personen würde meine Empfehlung deutlich zurückhaltender ausfallen: Gluten ist nicht das absolut Böse, zu welchem es in den letzten Jahren gemacht wurde. Im Gegenteil: Viele Jahrtausende brachte es die großen Zivilisationen, etwa das alte Griechenland oder Römische Reich zur Blüte des kulturellen Schaffens. Ein gesunder Mensch, mit einer intakten Darmbarriere und einem biodiversen Mikrobiom wird im Normalfall keine Probleme mit dem Klebeprotein haben. Anders verhält es sich mit vielen Autoimmunstörungen (etwa der Schilddrüse) oder neuropsychiatrischen Störungen, bei welchen eine negative Rolle des Gluten ebenfalls gut nachgewiesen ist. 

 

Hier noch einige Ratschläge, solltest du vermuten, ein Problem mit Gluten zu haben:

 

1. Unternimm keinen Selbstversuch! Lass dich testen.

Dieser Punkt ist essentiell. Stürze dich nicht in eine glutenfreie Diät, ohne vorher mit deinem Arzt zu sprechen. Ernährst du dich erst einmal glutenfrei, kann der Arzt keine Zöliakie oder Weizenallergie mehr ausschließen und das ist wichtig, denn vor allem bei der Zöliakie werden auch kleinste Diätfehler oder gar eine Rückkehr zur gewohnten Kost hart bestraft. Lasse also deine Antikörper bestimmen und das Immunglobulin E messen, bevor du dich der glutenfreien Kost verschreibst.

 

2. Achte auf weitere problematische Bestandteile!

Einige Studien haben gezeigt, dass neben dem Gluten auch andere Bestandteile der glutenhaltigen Getreidesorten eine Rolle spielen. Deshalb kann es sinnvoll sein, auch auf diese verstärkt zu achten. Fruktane finden sich nicht nur in Weizen, Gerste, Roggen usw., sondern auch in Knoblauch, Zwiebeln, Nektarinen und einigen anderen Lebensmitteln. Hier kann dir eine gute low-FODMAP-Tabelle helfen. Interessanterweise reduziert eine low-FODMAP-Diät auch die Auswirkungen von Endotoxinen, welche als eine Ursache der Glutensensitivität diskutiert werden. Eventuell könnte eine langfristige FODMAP-arme und glutenfreie Kost die Glutenintoleranz tatsächlich beseitigen!

3. Gestalte die glutenfreie Kost abwechslungsreich und achte auf dein Mikrobiom!

Inzwischen haben einige Studien gezeigt, dass es mit einer klassischen glutenfreien Kost teilweise zu Mangelerscheinungen und vor allem auch zu Veränderungen unserer Darmflora kommt. In letzterer konnte eine Reduktion probiotischer Bakterien nachgewiesen werden. Deshalb solltest du zum einen möglichst vielfältig und nahrhaft essen. Es ist keine gute Option Weizen einfach durch weißes Reismehl oder gar Stärke zu ersetzen. Eine glutenfreie Kost kann sehr nahrhaft sein, mit einem Groß an Gemüse, Obst, Nüssen und Samen, Fisch und Meeresfrüchten, Olivenöl usw. Zusätzlich könntest du darüber nachdenken, gezielt verschiedene Präbiotika einzusetzen, um deinem Mikrobiom wieder den richtigen Dreh zu verpassen!

4. Vermeide die Gluten-Diskussion!

Meiner Meinung nach sollten gerade Angehörige Verständnis zeigen und das Verhalten der Betroffenen nicht andauernd hinterfragen. Warum ist es eigentlich so relevant, warum sich jemand besser fühlt? 

 

"Von wegen Gluten (Fruktose, Laktose, Sorbit, Histamin, usw. einsetzen)! Das ist doch nur Psychosomatik!"

 

Ach hätte ich doch nur jedes mal eine Stunde zu meinem vergönnten Leben bekommen, wann immer mir Klienten diesen Satz ihrer Mitmenschen erzählten. Ich würde wohl in vielen hundert Jahren noch über diese Erde wandeln. Aber ob man das auch will? Nun gut. Zum einen legt der Satz ein ungenügendes, um nicht zu sagen schlechtes, Verständnis der Psychosomatik nahe, was mich als praktisch Tätigem in diesem Bereich sauer aufstößt. Aber viel schlimmer ist eigentlich, dass man nicht akzeptieren kann oder will, dass es Menschen besser geht, ganz egal was dahinter steckt. Warum versucht man jemandem Freude oder Erfolg aus dem Leben zu reden, weil man nicht an dessen Methode glaubt? Ich vergleiche das immer mit den heutigen Sportwissenschaftlern, die mir erklären, dass die Trainingsmethoden von Muhammed Ali nicht zum Erfolg geführt hätten, weil sie ja nicht wissenschaftlich fundiert waren. Hmmm. Oder wenn man einem Kind erklärt, dass gerade den Schmerz des Hornissenstiches vergessen hatte, dass diese Zuckerkugel ja gar nicht wirken könne, weil die Wissenschaft dahinter nicht glasklar ist. Noch einmal zum mitschreiben: Es handelt sich hier nicht um ein selbstschädigendes Verhalten, sondern um eine glutenfreie Ernährung, die man gesund und auch kostengünstig gestalten kann, wenn man sich etwas Mühe macht. Interessanterweise scheinen die Mitmenschen weit weniger Probleme damit zu haben, wenn man Loperamid, Mebeverin und andere Pharmaka konsumiert ... 

 

Langer Rede, kurzer Sinn: Es kann durchaus sinnvoll sein, dass Reizthema Gluten zu umgehen. Inzwischen hat sich durch die extensive Berichterstattung einfach jeder seine Meinung gebildet und es ist sehr schwer die Menschen von einer differenzierteren Sichtweise zu überzeugen. Der Verweis auf die FODMAP-Diät, ein zugehöriges Sachbuch von einem Professor oder ein Link zu den Ernährungsdocs kann da wahre Wunder helfen! Und ganz zufällig verzichtet man bei dieser tollen neuen, wissenschaftlich geprüften Diät eben auch noch auf die allermeisten Glutenquellen ... 

 

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