Lass dich nicht krank machen!

Das Reizdarmsyndrom wird schlimmer, wenn man fest daran denkt.
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Die vergangene Zeit seit der Jahrtausendwende hat uns Reizdarmpatienten viele wichtige und nützliche Neuerungen gebracht. Neben der low-FODMAP-Diät, den Kenntnissen über Dünndarmfehlbesiedlung und Mikrobiom  und vielen Fortschritten im pharmakologischen Bereich (ich denke da beispielsweise an progressive Medikamente wie Ramosetron in Japan oder Eluxadolin in den USA) wurden vor allem die gastroenterologischen Fachgesellschaften nicht müde den Patienten, Ärzten und anderen Fachkreisen zu erklären, dass es sich bei einem Reizdarmsyndrom nicht um eine Somatisierungsstörung handelt, sondern spezifische Pathomechanismen an Genese und Aufrechterhaltung der Erkrankung beteiligt sind (u.a. Mikroentzündungen, Mastzellabnormitäten, Veränderungen des Mikrobioms mit daraus folgenden Störungen der Hirn-Darm-Achse).

 

Das Reizdarmsyndrom wurde endlich auf eine Stufe mit anderen Darmerkrankungen gestellt und die Betroffenen bekamen nach langem Warten endlich "die Absolution": Du bist körperlich chronisch krank! Natürlich muss ich zugeben, dass dies noch nicht bis zu jedem Arzt durchgedrungen zu sein scheint, aber da heute ohnehin die meisten Patienten lieber ihrer Suchmaschine vertrauen ... (aber das ist ein anderes Thema).

 


Der Reizdarm wird schlimmer, wenn man daran glaubt!

 

Finden Sie, das ist ein blöder Spruch? Der könnte doch tatsächlich direkt von einem dieser ignoranten Hausärzte, einem Kollegen, oder einem dieser unverständigen empathielosen Familienmitglieder kommen, oder? Vor einiger Zeit hätte ich das genauso unterschrieben. Allerdings haben mich inzwischen über 16 Jahre eigene Krankheitserfahrung und einige Jahre der Arbeit mit RDS-Patienten dazu bekehrt, einen gewissen Sinn oder eben einen wahren Kern in dieser Aussage zu sehen.

 

Dabei soll die folgende Argumentation nicht so verstanden werden, als wäre der Reizdarm nur eingebildet. Ganz im Gegenteil. Unser Informationsportal kämpft von Anfang an für die Anerkennung des Reizdarmsyndroms als Erkrankung und dafür, dass diese von Medizinern, Arbeitgebern und dem engeren sozialen Umfeld entsprechend ernst genommen wird. Schließlich kennen wir alle die Marginalisierungen und Verniedlichungen unserer teils erheblichen Beschwerden ("Na, ich war doch auch schon mal mit etwas Bauchzwicken auf Außendienst. Stell dich nicht so an!") Aus diesem Grund tragen wir auch immer wieder wissenschaftlich-fundierte Fakten zu Genese und Pathomechanismen hier zusammen und übersetzen diese in (hoffentlich) für die Betroffenen und ihre Angehörigen verständliche Texte.

 

Und dennoch ...

 

 

Was passiert, wenn man einem Menschen erklärt, dass er eine chronische Erkrankung hat und ihm eine Heilungsoption vorenthält?

 

Genau dies passiert nämlich beim Reizdarmsyndrom. Es ist eine ernstzunehmende chronische Erkrankung mit starkem Einfluss auf die Lebensqualität (bis hin zu Suizidgedanken) und teils schwersten Komorbiditäten (Depression, Generalisierte Angststörung, Panikstörung, Fibromyalgie, Medikamentenmissbrauch sind möglich). Weiterhin handelt es sich um eine funktionelle Störung, was bedeutet, dass die Mediziner nicht über eine ursächliche Therapie verfügen. Nehmen wir noch den Fakt hinzu, dass viele von uns nur schlecht auf Medikamente ansprechen, oder diese mit der Zeit ihre Wirkung verlieren, entsteht ein wirkliches Dilemma.

 

Viele Patienten erleben dies als "Freifahrtschein", sich ihrer Erkrankung voll und ganz hinzugeben. ("Ich bin ernsthaft körperlich krank und keine Therapie hilft richtig, ergo darf es mir schlecht gehen und muss ich auf schönes oder herausforderndes verzichten!") Klingt Ihnen das vielleicht zu hartherzig? Glauben Sie nicht so recht an diese psychologische Theorie? Dann lassen Sie uns das Ganze an einem kurzen Beispiel aus einem anderen Bereich nachvollziehen ...

 

 

Übergewichtig = Krank -> Noch mehr Übergewicht!

 

Ähnlich wie in der Reizdarmforschung hat sich auch in der Wissenschaft rund um das Übergewicht in den letzten Jahren viel bewegt. So wissen wir heute u.a., dass das Übergewicht nur zu einem Teil durch ungünstige Verhaltensweisen (wenig Bewegung, hochkalorisches Essen) verursacht wird, sondern auch die Gene eine erhebliche Rolle spielen oder etwa die von der Mutter übertragene Flora, welche eine Grundlage für das spätere Mikrobiom bildet. Aus diesen neuen Kenntnissen resultierte, dass Übergewicht als Krankheit bezeichnet wurde, doch damit nicht genug ...

 

Wie zu erwarten, veränderte dies zwar die Schuldzuschreibungen der Betroffenen positiv, allerdings nahmen diese auch ihr Übergewicht als "kaum veränderbar" wahr.  Betroffene, welche an die Krankheitshypothese glaubten, trafen damit einhergehend deutlich schlechtere Lebensmittelentscheidungen (ungesünder, hochkalorisch, wenig nährstoffdicht) und trieben weniger Sport (u.a. Hoyt & Burnett, 2014). Die Krankheitshypothese machte sie also zu Opfern, obwohl wir wissen, dass Nahrungsauswahl und Kalorienverbrauch via Bewegung sehr wohl einen großen Einfluss auf das Übergewicht und die damit assoziierten Risikofaktoren haben, auch wenn sie nicht die einzigen zielführenden Komponenten sind.

 

 

Und gilt das auch beim Reizdarmsyndrom?

 

Obwohl es dazu noch keine wissenschaftlichen Untersuchungen gibt, bin ich davon fest überzeugt. Dies beobachte ich beinahe tagtäglich bei meiner Arbeit. Patienten, welche ihre Darmprobleme weniger als Krankheit empfinden, bzw. diese ihrer Psyche "zuschieben" bewältigen ihr Leben oft besser, als die Verfechter einer rein körperlichen Erkrankung. Dabei hat dies nichts mit der Stärke der erlebten Symptome zu tun.

 

Wir sollten uns bewusst machen, dass das Reizdarmsyndrom auf jeden Fall eine starke psychische Komponente hat (ungeachtet dessen, ob diese erst in der Folge der Darmsymptome entstehen) und diese in Form von Krankheitsüberzeugungen, chronischem Stress, Vermeidungsverhalten etc. erheblich unsere Lebensqualität beeinflusst.

 

Stanculete und Kollegen (2015) haben gezeigt, wie stark sich negative (oft irrationale) Überzeugungen auf die Lebensqualität beim Reizdarmsyndrom auswirken. Unter anderem moderieren sie das Vermeidungsverhalten, welches zu weniger befriedigenden Erlebnissen im Sozial- und Berufsleben führt. Natürlich ist es wahrscheinlicher, dass ich eine Ernährungsumstellung beginne oder ein Entspannungsverfahren erlerne, wenn ich glaube, meine Beschwerden damit tatsächlich beeinflussen zu können (für beides ist dies beim Reizdarmsyndrom übrigens nachgewiesen - ohne dass dabei die Psyche oder die Verdauung der grundlegende Faktor sein muss).

 

Lassen Sie sich aufgrund Ihres Leidens also bitte keinen Stempel, kein Label aufdrücken. Lassen Sie sich nicht in eine Opferrolle drängen! Irgendwie ist es ja paradox: Behinderte Menschen kämpfen seit Jahrzehnten darum, dass man ihre Potenziale und Stärken sieht, während andere Menschen darum ringen, als schwach und krank anerkannt zu werden.

 

Es reicht, wenn Ihr Chef oder Ihr Partner akzeptiert, dass es sich um eine tatsächliche Erkrankung handelt, Sie selbst müssen sich weder damit identifizieren, noch sollten Sie es als Ausrede gebrauchen. Ja, wir Betroffene haben Beschwerden, sind vielleicht manchmal nicht so flexibel und leistungsfähig (stressresistent) wie andere, haben gewisse Gewohnheiten und Ängste, aber wir sind oft auch einfühlsamer, willenstärker und empathischer. Wir sind nicht krank, wir sind anders. Und das kann man ändern, wenn man möchte.

 

 Eines noch zum Schluss aus meiner Erfahrung in der psychologischen Praxis: Einigeln und Selbstmitleid machen niemandem eine solche Tortur erträglicher. Manchmal ist es der "steinige Weg", welcher zur sonnigsten Lichtung führt ...