Irrationale Überzeugungen machen das Leben mit dem Reizdarm schwer(er)!

In den vergangenen Monaten haben wir uns hier auf dem Blog sehr ausführlich mit biologischen und physiologischen Aspekten der Reizdarmtherapie beschäftigt. Doch natürlich liegt mir auch meine Kerndisziplin am Herzen (nämlich die Psychologie), welche aller Unkenrufe zum Trotz, einen erheblichen Einfluss auf das individuelle Erleben der chronischen Darmstörung hat. Dies beweisen immer wieder klinische Untersuchungen: So wissen wir, dass ein Großteil aller Reizdarmpatienten psychiatrische Auffälligkeiten zeigt, ihre gefühlte Lebensqualität stark herabgesetzt ist, Stresssituationen die Reizdarmsymptome oft verstärken und natürlich auch, dass eine zielorientierte Psychotherapie vielen Betroffenen hilft. Dabei kann sie in einigen Untersuchungen ähnlich beeindruckende Werte wie beispielsweise die low-FODMAP-Diät erzielen.

Natürlich geht heute kaum noch ein ernstzunehmender Psychotherapeut oder Arzt davon aus, dass die Ursachen des Reizdarmsyndroms rein psychischer Natur sind. Aber ebenso töricht wäre es, den immensen Einfluss unseres Innenlebens auf unseren Körper und natürlich auch unser Erleben einer chronischen Erkrankung zu negieren. Warum tut sich eine Betroffene enorm schwer mit dieser Störung, während ein anderer, mit ganz ähnlichen Symptomen, recht gut durchs Leben kommt?

 

Heute betrachten wir eine sehr interessante und aktuelle Studie zum Thema, welche die Zusammenhänge zwischen subjektiver Lebensqualität und irrationalen Gedanken im Rahmen des Reizdarms ergründet.

 


Die angesprochene Studie wurde im Juni 2015 im Journal of Gastrointestinal and Liver Diseases publiziert. Die Forschergruppe um Mihaela Stanculete verglich die Einschätzungen der Lebensqualität und individuellen Bewältigungsstile von 70 langfristigen RDS-Betroffenen mit denen gesunder Kontrollpersonen. Es wurden ausschließlich Personen in erstere Gruppe aufgenommen, welche nach den ROM-III-Kriterien diagnostiziert worden waren. Beide Gruppen mussten neben einem Fragebogen mit demographischen Angaben mehrere wissenschaftlich validierte, psychologische Skalen zu Bewältigungsstilen ausfüllen. Hierzu gehörten das COPE-Inventar, die Dysfunctional Attitudes Scale und die Short Form Health Survey (besser bekannt als SF-36).


Ergebnis I: RDS-Patienten berichten deutlich herabgesetzte Lebensqualität

Auch in dieser Untersuchung fanden die Forscher eine berichtete starke Einschränkung der Lebensqualität unter den RDS-Patienten. Dies könnte u.a. dadurch verstärkt worden sein, dass hauptsächlich Betroffene mit RDS-D(urchfall) rekrutiert wurden, welche innerhalb der RDS-Subtypen regelmäßig die größten Einschränkungen berichten. Die Wissenschaftler verweisen darauf, dass die Auswirkungen der Symptome des Reizdarmsyndroms in Vergleichsstudien teilweise größere negative Auswirkungen auf die Lebensqualität zeigen, als organische Erkrankungen (wie bspw. Morbus Crohn).


RDS-Betroffene nutzen verstärkt problem-fokussierte und vermeidungsorientierte Bewältigungsstrategien

Die Untersuchung zeigte auch Gründe auf, warum RDS-Betroffene ihre Lebensqualität konsistent als niedriger einschätzten. So nutzen Sie nach eigenen Angaben signifikant mehr problemfokussierte Bewältigungsstrategien, während sich die Vergleichspersonen u.a. eher emotional mit ihren Problemen auseinandersetzten (nicht problem-fokussiert). Dieses Verhalten führt im realen Leben zu einer Spirale aus unnötigen Arztbesuchen, Grübeln, Internetrecherche etc. und erhöht letztendlich den erlebten Druck und die Einschätzung der Schwere der Krankheit.


Ein weiterer Nachteil ist die ausgeprägte Tendenz zu vermeidungs-orientierten Bewältigungsstilen. So meiden Reizdarmpatienten häufig soziale Situationen, Reisen, oder auch berufliche Herausforderungen, da sie befürchten, diese könnten Symptome triggern, oder sie könnten sich blamieren etc. Es entsteht der typische "Kreislauf der Angst": Die angstbesetzten Situationen werden mangels Übung und positiven Erfahrungen als immer "bedrohlicher" empfunden. Das Erregungspotenzial steigt und es kann dadurch zu negativen Erfahrungen kommen.


Beide Bewältigungsstile haben negative Auswirkungen auf die empfundene Lebensqualität:


  • "Ich kann an nichts anderes mehr denken."
  • "Ich lasse mir alle Chancen entgehen." , "Keiner versteht mich. Ich habe Freunde verloren."


Irrationale (negative) Überzeugungen machen uns das Leben schwer

Die Dysfunctional Attitude Scale (DAS) wurde entwickelt, um irrationale negative Überzeugungen und Gedanken im Rahmen der Depression zu erfassen, für welche diese typisch sind. Doch auch bei der Aufrechterhaltung und Verstärkung des Reizdarmsyndroms spielen diese negativen Erwartungen eine bedeutende Rolle, was diese Studie erneut bestätigte, denn die negativen Überzeugungen vermittelten u.a. den Bewältigungsstil. Bin ich der festen Überzeugung, dass ich mittenst im Bewerbungsgespräch Durchfall bekomme und mich irgendwie peinlich oder inkompetent benehme, dann neige ich natürlich dazu, diese Situationen zu meiden (Warum sollte ausgerechnet ich mich für diesen höheren Posten bewerben ...)


Was ist also zu tun?

Vielleicht werden Sie jetzt denken: "Solche Erkenntnisse sind ja schön und gut und für einen Psychologen sicherlich interessant, aber was nützt mir das konkret?"


"Eine ganze Menge", ist meine Antwort darauf, denn es gibt durchaus Mittel und Wege diese Gedanken und Überzeugungen aufzudecken und aktiv zu hinterfragen.

Bei der nächsten stressigen RDS-Situation möchte ich, dass Sie direkt danach alle Gedanken, die Ihnen durch den Kopf rasten (egal ob Sie Ihnen erst einmal unwichtig erscheinen) aufschreiben. Dies muss auch die Gedanken umfassen, die Sie vor der eigentlichen Situation hatten (bspw. "Oh je, das geht heute schief. Ich werde sicherlich ...")

Wenn Sie sich später etwas beruhigt haben, prüfen Sie jeden dieser Gedanken auf seinen Wahrheitswert. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass gerade dieser beschriebene Fall eintritt? Nutzen Sie dazu Ihre Erfahrungen in vergangenen Situationen: Wir haben bspw. sehr oft Klienten, die befürchten, im Notfall keine Toilette zu erreichen. Befragt man diese nach negativen Erfahrungen, dann verneinen sie diese. Sie haben also vor etwas panische Angst, was in der Realität noch NIE passiert ist. Die Chance ist sehr groß, dass es auch in Zukunft nicht der Fall sein wird.

Nehmen Sie aber auch ihren gesunden Menschenverstand zuhilfe oder fragen Sie Freunde oder Ihren Partner. Wenn Sie etwa glauben, dass Sie sich in angstbesetzten Situationen lächerlich machen, dann kann es helfen, wenn Ihr Partner Ihnen seine Sicht der Situation und Ihrer Person schildert. Sie könnten sogar ein Video machen. Oft glauben wir, dass alle Welt es bemerkt, wenn es uns schlecht geht, oder wir zur Toilette gehen. Aber so wichtig sind wir gar nicht. Befragen wir andere an der Situation beteiligte Personen sind wir oft überrascht, dass diese gar nichts merken oder aber unser Verhalten anders interpretieren ("Ihnen geht es nicht gut? Ich dachte Sie müssen ein paar wichtige Telefonate erledigen.").


Wenn Sie diese Analyse abgeschlossen haben, kommt ein weiterer wichtiger Teil: Sie müssen Ihre erkannten negativen Erwartungen durch REALISTISCHE(re) ersetzen. Also nicht: "Ich gehe in das Bewerbungsgespräch und werde das dort ganz cool rocken", sondern vielleicht eher: "Ich gehe hin. Vielleicht bekomme ich Bauchgrummeln oder fange vor Nervosität an zu schwitzen. Aber das wird im Laufe des Gesprächs verschwinden, das war bis jetzt immer so."


Das mit der Zeit gewonnene niedrigere Erregungspotenzial führt zu verminderten Symptomen und neuen positiven Erfahrungen. Unsere Lebensqualität steigt mit jedem Bowlingabend, jedem erfolgreichen Geschäftsessen und jedem Tag, an dem wir nicht an unsere Krankheit denken müssen.



PS: Es kann auch einmal ganz hilfreich sein, sich zu einigen Sachen zu zwingenm denn manchmal müssen wir erst wieder schmerzhaft erfahren, was eigentlich trotz dieser kräftezehrenden Erkrankung möglich ist. Denken Sie daran: Kaum etwas lässt die Lebensqualität so sehr sinken, wie ein ausgeprägtes Vermeidungsverhalten und das EinIgeln in den eigenen vier Wänden.

Falls Ihre Symptome so stark sein sollten, dass Sie sich keine sozialen Situationen mehr zutrauen, dann müssen Sie sich Ihr Leben so gestalten, dass Sie es zuhause als "lebenswert" empfinden und sich entsprechende Arbeit, Hobbies und soziale Kontakte suchen.


Unser Leben kann auch mit RDS sehr schön sein!