Reizdarm - eine evolutionäre Perspektive

In einem meiner Artikel für das Paracelsus- Magazin machte ich mir Gedanken zur evolutionären Entstehung und Anpassung psychiatrischer Erkrankungen. Dem Verständnis der Evolutionsmedizin nach können Erkrankungen nur über viele Jahrtausende bestehen, wenn sie einen Nutzen für den menschlichen Organismus im Sinne eines Fortpflanzungsvorteils haben. Einen weiteren Mechanismus finden wir bspw. noch bei Infektionskrankheiten, bei welchen der Vorteil für den Erreger bestehen muss. Vor einigen Tagen stellte ich mir nun die Frage:


  • Welchen evolutionären Nutzen könnte denn eine so einschneidende Erkrankung wie das Reizdarmsyndrom haben? Wäre sie nicht eher ein enormes Hindernis im täglichen Überlebenskampf?

Zur Beantwortung dieser Fragestellung müssen wir einige Vorüberlegungen anstellen:


  1. Wie lange gibt es den Reizdarm schon?
  2. Handelt es sich um eine infektiöse Krankheit oder doch um eine Störung der Gehirn- Darm- Achse?
  3. Worin besteht der zentrale evolutionäre Wirkmechanismus von Durchfall, Blähungen etc?

Hatte Hermann der Cherusker einen Reizdarm?

Professor Andreas Rädler hat recht eindrucksvoll geschildert, dass die chronisch entzündlichen Darmerkrankungen Morbus Crohn und Colitis ulcerosa erst seit knapp 100 Jahren existieren und ihre Entstehung unaufknüpfbar mit dem Lebensstil westlicher Industrienationen verknüpft ist.

Doch ist dies auch für das Reizdarmsyndrom der Fall? Funktionelle gastrointestinale Beschwerden scheinen schon seit vielen tausend Jahren, vielleicht sogar schon immer zu existieren. Beinahe alle Heilsysteme der großen antiken Kulturen halten bspw. Kräuter- und Ernährungsempfehlungen für chronische Bauchschmerzen oder Durchfall bereit.

Als erster westlicher Mediziner beschrieb übrigens Ambois Pare´, Chirurg der französischen Könige (um 1500), systematisch die Erkrankungsmerkmale des Reizdarmsyndroms und kategorisierte seine Beobachtungen unter dem Begriff "windige Kolik". Auch die in den Volksmund übergegangenen Erfahrungen "Schiss haben", oder "sich in die Hosen machen" etc. sind in vielen Kulturen vorhanden und zeugen von der Allgegenwärtigkeit des Phänomens.



Ist das Reizdarmsyndrom eine infektiöse Erkrankung?

Zumindest verhält es sich nicht wie ein klassischer Vertreter dieser Art. Es ist bspw. nicht durch Körperflüssigkeiten übertragbar.


Und dennoch gibt es seit einigen Jahren Hinweise auf bakterielle Beteiligung. Wir wissen bspw., dass bis zu 80% der betroffenen Patienten unter einer Dünndarmfehlbesiedlung leiden, d.h. einer überwucherten oder falsch zusammengesetzten Darmflora im sonst recht spärlich besiedelten Dünndarm. Wir kennen das Phänomen bzw. den Subtyp des Postinfektiösen Reizdarms (RDS-PI), welcher erst nach einer schwerwiegenden Gastroenteritis zu beobachten ist. Uns liegen auch mehrere Studien vor, welche den Beitrag aktiver Infektionen zur Aufrechterhaltung des Reizdarmsyndroms belegen. UND: Fast die Hälfte aller Reizdarmpatienten (auch ohne vorherige Zuordnung nach Dünndarmfehlbesiedlung oder PI) spricht positiv auf Antibiotika wie Rifaximin an.


Würde das Reizdarmsyndrom durch infektiöse Erreger ausgelöst werden, dann müsste ,meinem Verständnis nach eine Antibiose therapeutisch im Sinne einer Heilung wirken. Das tut sie aber nicht. Ganz im Gegenteil: Wir wissen, dass die Effektstärke von Rifaximin auf einer Stufe mit der Ballaststofftherapie steht und diese ist nicht besonders hoch ... Sie wird weit übertrumpft von etwa Pfefferminzöl und Antidepressiva (was wiederum einen Zusammenhang mit der Gehirn- Darm- Achse nahelegen würde).


Weiterhin kann die Hypothese andere Gegebenheiten bei einem Reizdarm nicht ausreichend erklären. Warum wird bei Reizdarmpatienten bspw. der Hypothalamus in Stresssituationen stärker aktiviert oder warum ist die graue Masse im Gehirn bei den Betroffenen dauerhaft verändert?



Wie sollte eine so einschränkende Erkrankung den Überlebenskampf sichern?

Gehen wir für dieses Gedankenexperiment also erst einmal davon aus, dass die Infektionshypothese die Erkrankung nicht (vollständig) erklärt und folgen einem biopsychosozialen Entstehungsmodell. Die Erkrankung müsste dann evolutionär nicht den Erreger bevorteilen, sondern den Wirt selbst - den Menschen.

Welchen Beitrag kann also ein Reizdarm in den vergangenen Jahrhunderten im täglichen Überlebenskampf geleistet haben? Uns Betroffenen kommt diese Frage wahrscheinlich erst einmal kontraintuitiv vor, aber ...


Heute findet ein Wettbewerb um Ressourcen auf einer anderen Ebene statt, als noch vor einigen Jahrhunderten. Dabei ist der Reizdarm inzwischen eher ein Hindernis als ein Vorteil, denn er führt in stressigen Situationen (bspw. dem Ringen um eine Beförderung) sehr oft zum Rückzug der Betroffenen aufgrund ihrer aufflammenden Darmsymptomatik.

 

Vielleicht brachte genau dieser Mechanismus vor vielen Jahrtausenden einen klaren Vorteil mit sich. In bedrohlichen Situationen provozierte die Gehirn- Darm- Achse starke gastrointestinale Beschwerden, um das Individuum zum kämpfen oder fliehen zu bewegen. Dies würde erklären, warum Studien zufolge erfahrene Soldaten in besonders bedrohlichen Gefechtssituationen Darmsymptome bekommen, oder warum nach Bürgerkriegen und Massakern bei ganzen Bevölkerungsgruppen übermäßig funktionelle Darmbeschwerden diagnostiziert werden können.

Natürlich ist es ein evolutionärer Vorteil, wenn uns unser Gehirn aus sehr bedrohlichen Situationen fliehen lässt. Nur wenn wir eine solche Extremsituation überleben, können wir uns weiter fortpflanzen.

 

Natürlich landen nur die allerwenigsten von uns in einer solchen körperlich bedrohlichen Situation für Leib und Leben. Doch unser Gehirn differenziert nicht auf diese Weise. Die Ansprüche an unsere verschiedenen Rollen im Alltag als Mutter, Ehefrau, Geschäftsführerin, Student, etc. werden als Bedrohungen wahrgenommen. Wir reagieren vor einer großen Prüfung oft mit "Bauchgrummeln" oder eben auch "Schiss".

 

Wir wissen heute, dass die natürliche Auslese zwei Typen von Kreaturen besonders bevorzugt. "Draufgänger" könnten in kritischen Situationen (bspw. Nahrungsknappheit) einen entscheidenden Vorteil haben. Sie riskieren viel, haben dafür aber beim Gelingen ihres Vorhabens auch bessere Überlebenschancen (dies könnte die evolutionäre Entwicklung bspw. des ADHS erklären - niedrige Impulskontrolle, Draufgängertum etc). Auf der anderen Seite haben wir die ängstlichen Tiere und Menschen. Sie sind sehr vorsichtig und versuchen sich aus kritischen Situationen so gut wie möglich herauszuhalten. Sie sind in Extremsituationen vielleicht benachteiligt, aber nur, wenn sie auch hineingezogen werden. Notfalls werden sie von ihrem Körper zur Flucht "gezwungen" (Angststörungen, Reizdarm).