Was sind die vermuteten Ursachen des Reizdarms?

Wenn es um die Ursachen des Reizdarmsyndroms geht, so wurden in den vergangenen fünf Jahren erhebliche Erkenntnisgewinne erzielt. Wir wissen heute, dass es nicht "die" Ursache für das Reizdarmsyndrom gibt, sondern dass es sich um verschiedene Ursachen mit ähnlichen Symptomkomplexen handelt. So gesehen müsste man die einzelnen Subtypen konsequent als eigene Krankheiten benennen, um eine erfolgversprechende Therapie abzusichern.

 

Welche Wirkungsmechanismen standen bzw. stehen aktuell zur Debatte?

Verdauung und Nervensystem

Eine der ersten Hypothesen ging von einer unzureichenden oder fehlerhaften Kommunikation zwischen Darm und Nervensystem aus. Neuesten Untersuchungen verdanken wir nun ein tieferes Verständnis dieser Überlegung. Bestimmte Immunzellen (genannt muscularis macrophages) scheinen mit den Nervenzellen des Darms zu kooperieren und dadurch die Kontraktionen und den Weitertransport des Nahrungsbreis zu steuern. Für die Kommunikatin zwischen den Immun- und Nervenzellen scheinen wiederum probiotische (also "gute") Darmbakterien verantwortlich zu sein (Muller und Kollegen, 2014).

 

Dysbiosen (also Fehlbesiedlungen des Darmes) könnten also die Kommunikation zwischen Immun- und Nervenzellen stören und Reizdarmsymptome verursachen. Dies konnte auch im Tierversuch bestätigt werden. Diese Erkenntnisse wurden im Sommer 2014 als Durchbruch in der Reizdarmforschung bezeichnet.

 

Das gesunde menschliche Mikrobiom (die Darmflora) besteht aus über 1.000 verschiedenen Spezies. In vielen Studien konnte nachgewiesen werden, dass Reizdarmpatienten oft über 25% dieser Spezies fehlen. Eine Reinstallation der fehlenden Biodiversität mittels Diät, Prä-/Probiotika und Stuhltransplantation scheint deshalb therapeutische Effekte zu haben. Die Wirkung der muscularis macrophages auf die Motilität könnte hierfür einen Erklärungsansatz liefern.

Glutensensitivität

Die meisten Patienten und Ärzte denken beim Wort Gluten sofort an die Zöliakie, eine Autoimmunerkrankung. Viele Patienten haben aber die Erfahrung gemacht, dass eine glutenfreie Kost ihnen trotz einer negativen Zöliakiediagnostik effektive Linderung verschafft. Dieser Befund wurde lange Zeit mit dem beim RDS ausgeprägten Placeboeffekt abgetan.

Vazquez-Roque und Kollegen konnten aber in einer Reihe aktueller randomisierter und kontrollierter Untersuchungen zeigen, dass eine glutenfreie Kost nicht nur sehr vielen Patienten hilft ihre Beschwerden stark zu reduzieren, sondern auch mögliche Wirkmechanismen ergründen. So veränderte sich nämlich durch Gluten die Durchlässigkeit der Darmwand und die Autoren legten hinsichtlich dieses Befundes einen reversiblen Verlauf der Erkrankung nahe.

Die Ergebnisse waren dabei eindeutiger für Patienten mit RDS-D(urchfall) und einem gewissen genetischen Prädiktor (dem HLA DQ2/8 Heterodimer).

 

Wohlgemerkt handelte es sich dabei nicht um Zöliakiepatienten. Die Diagnose wurde vor Beginn der Studie bei allen Probanden klinisch ausgeschlossen.

Dünndarmfehlbesiedlung

Der weitaus überwiegende Teil der Darmbakterien findet sich im Dickdarm, während der Dünndarm eher spärlich besiedelt ist. Um diesen Zustand aufrecht zu erhalten verfügt unser Körper über verschiedene strukturelle Gegebenheiten (bspw. Klappen, welche als eine Art Schranke fungieren) und Mechanismen (bspw. rhytmische Kontraktionen, die heraufgewanderte Bakterien wieder zurück in den Dickdarm befördern). Trotzdem kann es durch verschiedene Ursachen zu einer dichteren Besiedlung des Dünndarms kommen und u.a. können dann die typischen Reizdarmsymptome eine Folge sein, denn die Bakterien greifen auf den Nahrungsbrei zu, bevor dieser verwertet werden kann und sorgen dadurch für Gasbildung und osmotische Effekte.

 

Pyleris und Kollegen (2012) fanden bspw. heraus, dass Reizdarmpatienten (Durchfall) deutlich häufiger von einer Dünndarmfehlbesiedlung betroffen sind, als gesunde Vergleichspersonen (19% vs. 60%). Dies würde erklären, warum viele RDS- Patienten von einer Antibiotikagabe (oft Rifaximin) profitieren. Leider hält dieser Effekt ohne entsprechende Behandlung des zugrundeliegenden Problems oft nur wenige Monate an und kann durch die "beiläufige" Elimination der Dickdarmflora einen "Bumerangeffekt" auslösen.

 

Die Dünndarmfehlbesiedlung lässt sich aber inzwischen diagnostisch gut erkennen und durch diätetische Maßnahmen effektiv behandeln.

Psychologische Faktoren

Viele Patienten reagieren immer noch gereizt, wenn man den Reizdarm in Verbindung mit psychischen Problemen bringt. Dabei kann die menschliche Psyche sehr wohl einen erheblichen Einfluss auf die Entstehung und Aufrechterhaltung der Krankheit haben.

 

Da in dieser Rubrik ja die Ursachen des Reizdarmsyndroms diskutiert werden sollen, sind einige Befunde besonders interessant: So fanden Spence und Moss- Morris (2007) heraus, dass gestresstere/ängstlichere Menschen eher einen postinfektiösen Reizdarm enwickelten, als ihre "entspannteren" Kontrollpersonen, welche ebenfalls eine Infektion mit dem selben Bakterium durchgemacht hatten.

Noch interessanter sind aber die Ergebnisse von Bailey und Kollegen (2010). Die Wissenschaftler zeigten im Tierversuch, wie die Exposition gegenüber sozialen Stressoren die Darmflora direkt negativ beeinflusst. Hier ergibt sich eine Verbindung zu den oben beschriebenen Dysbiosen, welche neben Antibiotika und Fehlernährung also auch durch chronischen Stress begünstigt werden.

Schließlich wissen wir auch, dass diese Erkenntnisse miteinander verzahnt sind, denn eine Darmflora mit weniger probiotischen Spezies führt zu stärkeren Angst- und Stressreaktionen. Es enststeht eine Art Teufelskreislauf.

 

Psychotherapeutische Interventionen erzielten regelmäßig sehr gute Ergebnisse, welche der medikamentösen Standardtherapie in verschiedenen Untersuchungen mindestens ebenbürtig waren. Über 80% der Betroffenen sprechen positiv auf eine Psychotherapie oder Mentales Training an.

Nahrungsmittelunverträglichkeiten

Nahrungsmittelunverträglichkeiten stehen schon recht lange im Verdacht für eine Fülle von Reizdarmbeschwerden verantwortlich zu sein. So entpuppte sich schon manches hartnäckige "Reizdarmsyndrom" als Milch- oder Fruchtzuckerunverträglichkeit, die therapeutisch bzw. diätetisch gut zugänglich ist.

Bei diesen klassischen Unverträglichkeiten fehlen dem Körper im Normalfall die Enzyme, um das entsprechende Kohlenhydrat zu resorbieren und somit kann es in den Dickdarm gelangen, wo es den Darmbakterien als Nahrung zur Verfügung steht. Durch den Stoffwechsel der Bakterien können Symptome wie Bauchschmerzen, Blähungen und Durchfall entstehen. Außerdem wird durch das Überangebot an Nahrung eine Fehlbesiedlung begünstigt. Nahrungsmittelunverträglichkeiten, Dünndarmfehlbesiedlung und das Fehlen probiotischer Spezies treten häufig gemeinsam auf.

 

Eine recht neue Hypothese geht von der Unverträglichkeit so genannter FODMAPs aus. Dieses Akronym steht für eine Gruppe schwer verdaulicher und schnell fermentierbarer Kohlenhydrate. Zusätzlich zum Milch- und Fruchtzucker zählen noch weitere Kohlenhydrate dazu. Eine Diät mit geringem FODMAP- Gehalt wirkt sich für Betroffene des Reizdarmsyndroms überaus positiv aus und wird aktuell von der medizinischen Fachwelt als der Goldstandard zur Symptomkontrolle angesehen.

Leider bekommt die Diät in Deutschland noch nicht die Aufmerksamkeit, die sie verdient (im Gegensatz zu Großbritannien, den USA, Neuseeland oder den USA).

Leaky Gut Syndrome

Das Leaky Gut Syndrom beschreibt eine erhöhte Durchlässigkeit (Permeabilität) der Darmwand. Diese Veränderung soll dafür sorgen, dass Bakterien, Toxine und Nahrungsbausteine in den sonst geschützten Organismus gelangen.

Dieses Konzept wurde bis vor wenigen Jahren beinahe ausschließlich von Vertretern der Komplementärmedizin propagiert und für ein großes Spektrum häufig auftretender Erkrankungen verantwortlich gemacht. Aus diesem Grund wurde es von Schulmedizinern häufig als "Diagnose zum Verkaufen von Therapien" abgelehnt.

 

Durch die neuen Studien zur Glutensensitivität und zur Dünndarmfehlbesiedlung rückte die durchlässige Darmschleimhaut aber wieder in den Fokus der Mediziner, auch wenn noch nicht geklärt ist, für welche Symptome diese verantwortlich ist. Auf jeden Fall sollte kritisch mit den vielen propagierten Beschwerden umgegangen werden, für die der Leaky Gut angeblich verantwortlich ist. Gleiches gilt für die propagierten sehr heterogenen Therapien. Bekannt ist auch, dass viele Dinge natürlicherweise kurzfristig die Permeabilität verändern, z.B. Sport.

 

Das Leaky Gut Syndrome scheint also wirklich eine Rolle in der Pathophysiologie des Reizdarmsyndroms zu spielen. Es fehlt aber an den nötigen Erkenntnissen, um diese genauer zu definieren. Sinnvoller scheint es deshalb, den Leaky Gut durch eine glutenfreie Diät positiv zu beeinflussen, als sich teuren und nicht bewiesenen Therapien zu unterziehen.

Aktive Infektionen

Von einigen Forschern wurde auch die Idee von aktiven Infektionen als Ursache für das Reizdarmsyndrom aufgeworfen. Stark und Kollegen (2007) beschrieben unter anderem die Rolle von Blastocystis hominis (einem Erreger für Durchfallerkrankungen) als "versteckte" Ursache.

Yakoob und Kollegen (2004) untersuchten den Stuhl von Reizdarmpatienten auf Blastocystis hominis. Die Betroffenen litten unter einer weitaus höheren Wahrscheinlichkeit unter der Infektion als die die Vergleichsgruppe (32% vs. 7%).

 

Lässt sich der Reizdarm durch Ernährungsumstellung, Mikronährstoffe und Mentaltechniken nicht befrieden, kann ein sinnvoller Stuhltest eine lohnende Investition sein. Hände weg von Billigtests, die lediglich einige Floraspezies erfassen und keinen Aufschluss über mögliche Infektionen geben.

Genetische Faktoren

Das Reizdarmsyndrom tritt familiär gehäuft auf. Einige Wissenschaftler vermuten deshalb eine genetische Komponente der Erkrankung, während andere diesem einen verhaltenspsychologischen Effekt (Modelllernen) oder eine geteilte Umwelt (bspw. Ernährung) entgegenstellen.

Fakt ist die genetische Komponente aber bspw. bei der Glutensensitivität (HLA-DQ 2/8 Heterodimer).