Diese Power-Frau leidet an einem Reizdarm und zeigt Gesicht!

Vor meinem Psychologiestudium arbeitete ich als Sporttherapeut und Fitnesstrainer in einem ambulanten Rehazentrum und auch heute noch fasziniert mich nahezu alles, was mit Kraft & Fitness zu tun hat. Vor kurzem hörte ich einen Podcast mit Rachel Guy, einer der bekanntesten Strength & Conditioning Trainerinnen der Welt, und staunte erst einmal nicht schlecht, als plötzlich das Thema Reizdarmsyndrom zur Sprache kam. Ein Zuhörer hatte die Frage gestellt, wie er sich fitnessgerecht ernähren kann, wenn ihm Vollkorn-, Milchprodukte, Gemüse und andere gesunde Lebensmittel doch Probleme bereiten würden. Nun wartete ich eigentlich auf die gewohnten Floskeln, denn das Thema wird immer wieder einmal in Sport-Podcasts oder -Artikeln angeschnitten. Aber Rachel, für ihre direkte Art bekannt, nutzte die Gunst des Augenblicks und outete sich als Mitbetroffene.

 


Im Laufe der Sendung erzählte sie nun von ihren eigenen Erfahrungen mit schlimmen Blähungen und Verstopfung. Sie berichtete u.a. wie schwer es ist, Übungen wie Kniebeugen etc. zu demonstrieren, wenn man das Gefühl hat, es würde einem gleich der Bauch platzen (was ich nur bestätigen kann ...), oder immer für die Klienten Lebensfreude und Aktivität zu vermitteln, obwohl es einem gerade an diesem Tag vielleicht sehr schlecht geht (auch das kenne ich gut).


Rachel ging dann noch auf ihre Ärzteodyssee ein und ihre Begegnung mit der low-FODMAP-Diät. Peter Whorwell, einer der bekanntesten Reizdarm-Spezialisten, setzte Rachel dann auf eine nahezu ballaststofffreie Diät, vor welcher die gesundheitsbewusste Sportskanone wahnsinnige Angst hatte. Nicht nur hatte sie in ihrem Studium viel über die positiven Wirkungen von Ballaststoffen gehört (verhindern Darmkrebs, sind wichtig für Herzgesundheit und ein gesundes Mikrobiom), sondern sie fürchtete auch, dass ihre Verdauung ohne Gemüse etc. vollständig zum Erliegen käme. Doch das Gegenteil geschah und sie erlebte nach vielen Jahren einen Durchbruch. Dr. Whorwells manchmal unkonventionelle Ansätze hatten sich wieder einmal bewährt.


Warum fällt es anderen Nationen scheinbar leichter über den Reizdarm bzw. IBS zu sprechen?

Neben Rachels eigener Erfahrung faszinierte mich besonders ihre Offenheit im Umgang mit dem Thema. Eine bildhübsche junge Frau, die sehr erfolgreich ist, Fitnessstudios betreibt, für Sportmagazine schreibt und regelmäßig vor die Kamera tritt. Ist nicht gerade sie darauf angewiesen Wohlbefinden, Gesundheit usw. auszustrahlen, damit sie glaubhaft wirkt? Schließlich lebt sie auch von ihrem Image ...


Interessanterweise habe ich schon sehr oft festgestellt, dass mit dem Thema Reizdarm in anderen Ländern (v.a. den USA, Australien, Neuseeland, teils Großbritannien) entspannter umgegangen wird, als in den deutschsprachigen. Dies zeigen Foren und Webseiten, aber berichten mir auch immer wieder Klienten und Leser, die dort bspw. ein Auslandssemester studierten. Nun könnte man glauben das liege daran, dass der Reizdarm dort häufiger ist, aber dies ist nicht der Fall. Die Rate der Betroffenen ähnelt sich in den westlichen Ländern stark.


Der offenere Umgang mit der Erkrankung scheint sich aber auszuzahlen, denn nicht umsonst sind gerade diese Länder immer wieder Vorreiter was neue und erfolgreiche Behandlungsansätze betrifft. Es lastet aber auch weniger Druck auf den Betroffenen. So weiß ich durch meine Kontakte in die USA, dass es dort keinen Aufschrei gibt, wenn ein Mitarbeiter seinem Chef sein "Problem" gesteht. Durch diesen Umgang ist es möglich, dass den Betroffenen schneller und unkomplizierter Hilfe zuteil wird (etwa ein besserer Toilettenzugang während der Arbeit, oder das Versetzen in eine andere Abteilung). In Deutschland hat das leider Seltenheitswert. Wir quälen uns lieber bis es nicht mehr geht und gefährden unseren Job. Aber woher kommt das eigentlich? Warum machen wir so ein Geheimnis um unsere Darmfunktionen? Wenn eine Rachel Guy, die auf zahllosen Postern in sehr knapper Wäsche posiert, in Ton und Bild über ihre schlimmen Blähungen spricht und erzählt, dass sie schon mehrmals von anderen Frauen gefragt wurde, wenn es denn mit dem Baby so weit sei, warum können wir uns dann nicht überwinden wenigstens unseren Mitarbeitern oder Freunden zu berichten, dass wir da ein Problem haben?


Es ist doch komisch, dass sich fast alle Patienten einen besseren Umgang mit dem Reizdarm wünschen, eine forciertere Forschung und das Ernstnehmen durch Ärzte, Krankenkassen, die Gesellschaft, aber niemand bereit ist, dafür mit seinem Namen einzustehen. Stattdessen verstecken wir uns lieber in den Foren hinter Nicknames und schmücken unsere Signatur mit unseren Unverträglichkeiten. Schauen wir uns doch etwas von den US-Amerikanern ab! Organisieren wir uns und formulieren konkrete Forderungen, damit wir endlich gehört werden. Denn obwohl wir so eine riesige Patientengruppe sind, haben wir ein sehr schlechtes Standing. Das sieht übrigens auch Professor Whorwell so.


Mit kämpferischen Grüßen

Thomas Struppe