Gluten und Reizdarm - Benzin und Feuer?

Sehr geehrter Professor Schulzke, Sie sind Experte für chronisch entzündliche Darmerkrankungen und haben an mehreren Untersuchungen zum Thema Gluten und Reizdarmsyndrom mitgearbeitet. Ich freue mich, dass Sie uns hier und heute Rede und Antwort stehen möchten.


Das Thema ist leider in der Tat komplex. Auch bestehen an vielen Stellen noch Wissenslücken und z.T. auch unterschiedliche Auffassungen. Insofern gebe ich Ihnen hier heute nur meine Einschätzung auf dem Stand 2013 wider, ohne damit alles klarstellen zu können.



In den Untersuchungen von Vazquez-Roque und Kollegen (Gastroenterology 2013) sprechen die Wissenschaftler davon, dass Gluten die Darmbarriere in Patienten mit RDS-D verändern kann und legen einen reversiblen Mechanismus der Krankheit nahe. Kann man also davon ausgehen, dass eine der Ursachen des RDS gefunden und für spezifische Subpopulationen heilbar ist?


Dass bei einer RDS Subgruppe die Darmbarriere Gluten-bedingt gestört ist, erhält durch die Arbeit von Vazquez-Roque 2013 in Gastroenterology einen (weiteren) Beleg. Für diese Subgruppe beim RDS besteht somit eine Therapieoption, nämlich die Gluten-freie Kost. Ein klinisches Ansprechen ist ja in der Arbeit noch einmal belegt worden (und war so von mir auch erwartet). In der Tat kann man meiner Auffassung nach damit sagen, dass eine Subgruppe des RDS definiert ist, auch wenn die Datenlage insgesamt natürlich eher dünn ist.



Müsste man Patienten mit den HLA DQ 2/8 Genen, welche auf glutenfreie Kost ansprechen als Betroffene einer latenten Zöliakie einordnen? Wie unterscheiden sich die Mechanismen bzw. die Pathophysiologie bei der Zöliakie und einem RDS-D, das auf glutenfreie Kost reagiert?


Dass ein Patient auf eine Umstellung seiner Diät „positiv“ reagiert ist nicht selten. Insofern ist auch eine positive Reaktion auf eine Gluten-freie Kost keine Seltenheit (auch bei Nicht-Zöliakie-Patienten). Vor diesem Hintergrund ist die alleinige Verwendung eines Ansprechens der Symptome auf eine Diät so gut wie nutzlos.

Da HLA DQ 2/8 bei ca. 20% unserer Bevölkerung gefunden wird, engt sich der Kandidatenkreis ja auch nur um den Faktor 5 ein. Die Zöliakie kommt aber nur bei 0,5% der Bevölkerung vor. Also kommen auf einen Zöliakie-Betroffenen weitere 39 Nicht-Zöliakie-Betroffene mit HLA DQ 2/8 Positivität. Das heißt für die Antwort auf Ihre konkrete Frage, dass HLA DQ 2/8 positive Patienten „mit Reaktion auf Gluten-freie Kost“ definitiv noch keine latente/potentielle Zöliakie haben müssen.

Aber natürlich befinden sich unter diesen Gluten-reaktiven HLA DQ 2/8-positiven RDS-Patienten einige mit einer latenten/potentiellen Sprue (ohne das wir den prozentualen Anteil aktuell quantitativ bereits angeben können) und nur die werden dauerhaft davon profitieren. Genau dieses Dilemma macht den Ärzten auf diesem Gebiet die Definition von allgemeinen Therapieempfehlungen so schwer.

An dieser Stelle sei einmal kurz angemerkt, dass der Begriff latente Sprue voraussetzt, dass früher bereits eine Zöliakie definitiv festgestellt worden ist (z.B. im Kindesalter mittels Dünndarmbiopsie). Ansonsten darf hier formal nur der Begriff potentielle Zöliakie verwendet werden (Definition nach der inzwischen verstorbenen Zöliakie-Spezialistin aus Edinburgh in Schottland, Anne Ferguson).

Zum zweiten Teil der Frage ist zu sagen, dass ein Patient mit latenter/potentiellerZöliakie immunologisch eine relative Toleranz gegenüber Gluten erworben hat (oft durch allmählich gesteigerte Aufnahme von Gluten-haltiger Kost während des Schulalters), so dass im höheren Alter die Schleimhaut wieder Zotten hat, aber eben doch im Dünndarmsekret noch leicht erhöhte IgA-Titer gegen Transglutaminase oder Endomysium nachweisbar sind. In der Summe ist diese minimale Immunaktivierung für die Symptome bei latenter Zöliakie verantwortlich, die unter Gluten-freier Kost verschwinden.

Bei der RDS-Patienten-Subgruppe, bei denen eine latente/potentielle Zöliakie zugrunde liegt, ist der Mechanismus derselbe. Aber es besteht ja in der Vergangenheit definitionsgemäß kein Zöliakienachweis bzw. er ist im Kindesalter vielleicht einfach verpasst worden. Auch werden beim RDS ja leider bis heute routinemäßig keine IgA Titer für Transglutaminase im Dünndarmsekret untersucht. Damit bleibt vieles unterbestimmt. Sicher befinden sich einzelne in der RDS-D Patientengruppe, die die oben ausgeführte Form der Zöliakie mit relativer Immuntoleranz gegen Gliadin aufweisen (also eine latente/potentielle Zöliakie haben).



In Ihrer Untersuchung von 2001 widmeten Sie sich mit Ihren Kollegen der Frage, welche Prädiktoren im voraus Patienten bestimmen können, die auf glutenfreie Kost ansprechen. Neben den spezifischen HLA-Genen waren dies die Glutenantikörper. Warum wurden diese Ergebnisse so lange von praktizierenden Ärzten ignoriert? In unserer Community wurden nur sehr wenige Patienten auf die Gene getestet und das, obwohl viele berichteten, dass sie kein Getreide vertragen.


Ja hier bleibt mir nur den letzten Teil meiner Antwort zu wiederholen. Unsere publizierte Studie in 2001 besitzt vom Design und der Patientenzahl her nicht die Power, um daraus weitreichende Empfehlungen abzuleiten. Demnach findet man auch in den Leitlinien der Fachgesellschaften bisher keine dezidierten Empfehlungen zur latenten/potentiellen Zöliakie, die z.B. Anti-Transglutaminase-IgA Bestimmungen im Dünndarmsaft als diagnostische Maßnahme für RDS-D Patienten angeben würde. Dabei ist auch zu bedenken, dass diese Diagnostik mit der dafür erforderlichen Endoskopie und der speziellen Diagnostik von Anti-Transglutaminase-IgA unter Bezug auf das Gesamt-IgA im Dünndarmsaft sehr aufwendig ist. In der Summe hat das bisher zu der fehlenden Akzeptanz dieses Diagnosekonzepts geführt. Meiner persönlichen Meinung nach würde eine solche Diagnostik für HLA DQ 2/8 positive RDS-Patienten aber nach wie vor Sinn machen (zumindest in einer größeren Studie getestet zu werden).



Wenn ich mich recht entsinne konnten Sie innerhalb Ihrer Studie immerhin eine Erfolgsquote von 60% vorweisen. Waren diese Patienten letztendlich wirklich symptomfrei?


Nein, diese Patienten war nicht völlig symptomfrei, aber doch deutlich gebessert. Die Erfolgsquote der Gluten-freien Diät in unserer Studie von 2001 war übrigens höher als 60%, jedenfalls für die HLA DQ 2 positiven RDS Patienten (siehe z.B. in Fig. 4 die Stuhlfrequenz). „Ihr Prozentsatz von 60%“ bezieht sich vielleicht auf die Sensitivität der beiden Diagnoseparameter HLA DQ 2 und Anti-Transglutaminase-IgA, im Dünndarmsaft eine latente Zöliakie nachzuweisen).



Viele Patienten möchten gern einen Selbstversuch starten. Es fehlt Ihnen allerdings an den nötigen Informationen. Bedeutet glutenfreie Kost, dass man jedes mg Gluten meiden, also auch auf Verunreinigungen achten muss, wie an Zöliakiebetroffener?


 

Die Empfindlichkeit gegen Gluten ist individuell unterschiedlich. Die oft angeführte Zahl von 100 mg pro Tag mag für viele Betroffene gelten, aber es gibt auch Zöliakie-Patienten, die auf 30 mg pro Tag oder sogar weniger reagieren. Insofern sind da Verunreinigungen in der Tat sehr wichtig. Küchenbereiche müssen getrennt werden, in denen Gluten-frei und Gluten-haltig gekocht wird. Ja selbst die Getreidemühlen dürfen Getreide nicht wechselweise verarbeiten und auch die Felderwirtschaft darf nicht im Wechsel Gluten-haltige Getreide anbauen. Wie empfindlich RDS-Patienten mit latenter Zöliakie durchschnittlich und im Einzelfall sind, wissen wir nicht. Ich würde aber in Anlehnung an die Situation bei der manifesten Zöliakie mit ähnlichen Grenzwerten argumentieren.



Welche Rolle spielen dabei die Amylase Trypsin Inhibitoren, welche aktuell für so viel mediale Aufmerksamkeit sorgen? Sind die ATIs vielleicht für den Erfolg der glutenfreien Kost bei RDS-D verantwortlich?


Diät-Änderungen einschließlich des Einführens einer Gluten-freien Kost können zu vielfältigen Verbesserungen von Symptomen des RDS führen. Dies wird sicher nicht in der Regel bzw. sogar eher nur ausnahmsweise auf einer spezifischen Elimination von ATIs beruhen, aber wir kennen die relativen Anteile nicht. Hier bleiben weitere Studien zu den Relationen abzuwarten.



Können Sie uns einen kurzen Ausblick in die Zukunft geben? Sind neue Untersuchungen geplant? Glauben Sie, dass die Erkenntnisse durch die neuen Studien demnächst Eingang in die medizinische Praxis finden werden?

 

Weitere Untersuchungen zum Stellenwert von Zöliakie-Antikörpertests im Dünndarmsaft zur Definition von Subgruppen des RDS sind z.Z. meines Wissens nicht in Bearbeitung. Auch fürchte ich, werden Labors die Diagnostik von Dünndarmsaft auf Anti-Transglutaminase-IgA und Gesamt-IgA demnächst noch nicht anbieten. Insofern wird sich in nächster Zeit an den aktuell in dem Leitlinien zu findenden Vorschlag nichts ändern, nämlich dass eine Gluten-Elimination beim RDS versucht werden kann, aber nur bei deutlichem und anhaltenden Effekt fortgesetzt werden sollte.

 


Vielen Dank für das erkenntnisreiche Gespräch und viel Erfolg bei zukünftigen Forschungsprojekten wünscht das Team von Reizdarmtherapie.net