Cannabinoide und ihre therapeutische Wirkung auf Darmkrankheiten

Hilft medizinischer Cannabis bei Reizdarm, Morbus Crohn, Kolitis ulcerosa und Co?
Bild: Tokamuwi via pixelio.de

And we were trying different things. We were smoking funny things. Making love out by the lake to our favorite song.

 

Marihuana wird schon seit Urzeiten als Rausch- aber vor allem auch Medizinprodukt gepriesen. Die Evidenz für seine therapeutische Anwendung reicht über 5000 Jahre zurück. Dennoch verschloss sich die "medical community" lange Zeit vor der Erforschung dieses Themas, was sicherlich auch mit der gesellschaftlichen Kontroverse um die Legalisierung zusammenhing. Der Wendepunkt lag dann aber in den Neunzigern: Forscher entdeckten zwei Rezeptoren des so genannten Endocannabinoid-Systems, einem bis dahin unbekannten Teil des menschlichen Nervensystems. Und nicht nur das, denn die Wissenschaftler fanden auch cannabisähnliche Substanzen, die vom Körper selbst produziert werden, die Endocannabinoide.

Inzwischen hat sich Medizinalhanf in Studien und praktischer Anwendung als wirkungsvoll bei verschiedensten Erkrankungen erwiesen, darunter Anorexie, chronisches Erbrechen, Bauchschmerzen und chronischer Durchfall.

 

Die im Artikel folgenden Ausführungen zum Endocannabinoid-System und den Auswirkungen der Cannabinoide auf Darmerkrankungen orientieren sich zu einem großen Teil an dem Review von Reichenbach & Schey (2016).

 

 


Grundlegendes zum Endocannabinoid-System

Das Endocannabinoid-System (im Folgenden ECS genannt) besteht aus zwei Rezeptoren:

 

  1. Cannabinoid-Rezeptor 1 findet sich in Nervenzellen vor allem des Kleinhirns und des Hippocampus, aber auch im Darm.
  2. Cannabinoid-Rezeptor 2 findet sich vorwiegend auf Zellen des Immunsystems.

Aus der Lokalisation der Rezeptoren leiten sich die unterschiedlichen Funktionen ab, wobei es inzwischen durch den gezielten Einsatz von Agonisten und Antagonisten möglich geworden ist, jeweils nur einen einzelnen Rezeptor gezielt zu hemmen oder zu aktivieren.

Besonders interessant ist auch eine Eigenschaft des CB1-Rezeptors: Seine Lokalisation ist deutlich mit Hirnarealen verknüpft, welche unser Gedächtnis steuern. In ersten Studien an Mäusen konnte gezeigt werden, dass ohne einen solchen Rezeptor das Erlernen negativer Erfahrungen kaum mehr möglich war, was ungeahnte Möglichkeiten in der Therapie von Angststörungen und Depressionen eröffnen würde.

 

Auch wenn noch nicht zu viel über die genauen Umstände des ECS und seiner Wirkungen bekannt ist, so ist es heute Konsens, dass es an einigen zentralen Mechanismen im menschlichen Körper stark beteiligt ist. Dazu gehören vor allem:

 

  • Schmerz
  • Schlaf
  • Appetit
  • Motilität (Muskeltätigkeit des Darms)
  • Temperaturregulation

 

 

Das ECS und das Reizdarmsyndrom, erste Erkenntnisse

Wie im letzten Blogartikel besprochen, gehören zu den zentralen Mechanismen und Prozessen des Reizdarmsyndroms u.a. Veränderungen der Motilität, eine abnormale Funktion der Hirn-Darm-Achse und die Hypersensitivität durch Immunaktivierung. Die Beeinflussung des ECS könnte somit an verschiedenen Schlüsselpunkten ansetzen, um zur Linderung der Reizdarm-Beschwerden beizutragen.

So konnte in Studien gezeigt werden, dass die Aktivierung des CB1-Rezeptors die Motilität des Darmes bremst, indem die Kontraktion der Darmmuskulatur gehemmt wird. Dieser für Reizdarm-Patienten wertvolle Wirkmechanismus kann im Übrigen bereits mit einer sehr geringen Dosis neuartiger Agonisten provoziert werden, welche dann keinerlei zentrale Nebenwirkungen wie Sedation oder Euphorie entfalten.

Sowohl in Untersuchungen an Labortieren, als auch an Patienten mit RDS-Durchfall und RDS-Mischtyp konnte nachgewiesen werden, dass CB1-Rezeptor-Agonisten die Darmpassagezeit erhöhen.

 

Der CB2-Rezeptor scheint eher an immunologischen Prozessen beteiligt zu sein. So zeigte er im Tiermodell (Durchfall und Entzündung) eine deutliche Verbesserung sowohl der Passagezeit, als auch der histologischen Entzündungsaktivität. Eine verminderte Stuhlfrequenz und festere Stuhlkonsistenz waren die symptomatischen Auswirkungen.

 

Weiterhin nehmen die Cannabinoide Einfluss auf die für den Reizdarm typische Hypersensitivität (Schmerzen oder Druckreize werden stärker empfunden, als von gesunden Kontrollpersonen). CB1-Agonisten senkten die Wahrnehmung solcher unangenehmer Reize und erhöhten die Schmerzschwelle in zahlreichen Tiermodellstudien.

Eine bedeutende Rolle spielt das ECS auch in der Modulierung des Serotoninhaushalts. Ein Überangebot des Neurotransmitters Serotonin im Darm ist ein bedeutender klinischer Effekt, welchen der Reizdarm, sowie die chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen teilen.

 

 

Ausblick und Konsequenzen

Die Autoren schließen, dass das Endocannabinoid-System eine noch viel größere Rolle im Gastrointestinaltrakt spielt, als sie sich jemals hätten vorstellen können und dass in den nächsten Jahren und Jahrzehnten sogar noch mehr Mechanismen entdeckt werden könnten, welche die Bedeutung des ECS bei der Behandlung chronischer Darmerkrankungen noch erhöhen sollten.

 

Obwohl die ersten Studien auch an RDS-Patienten vorliegen, besteht noch eine große Vielzahl unbekannter Variablen, vor allem was die Einbettung des ECS in andere Signalsysteme betrifft. So kam es durchaus auch zu recht inkonsistenten Studienergebnissen, was auch dadurch verschuldet sein kann, dass die Aktivität und Ausprägung der CB-Rezeptoren geografisch differiert. Dennoch handelt es sich natürlich um ein spannendes Feld, welches zukünftig sicher noch für viel Aufmerksamkeit sorgen wird.

 

Trotz der euphorischen Ergebnisse ist der Bezug von Cannabis in Deutschland noch immer streng reguliert. Fertigprodukte können vom Arzt verschrieben werden. Einige wie Sativex oder Marinol müssen umständlich über US-amerikanische Apotheken importiert werden. Für weitere gibt es aber auch die Möglichkeit eigener Rezepturzubereitungen. Die Kosten müssen von den Betroffenen trotz Notwendigkeitsbescheinigung der Ärzte meist selbst getragen werden. Es handelt sich rechtlich immer um einen "individuellen Behandlungsversuch".

Mit einer Sondergenehmigung des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinalprodukte kann in Ausnahmefällen Medizinalhanf über die Apotheke bezogen werden. 2015 besaßen allerdings gerade einmal etwas mehr als 500 Menschen in Deutschland eine solche Erlaubnis und bereiteten den Medizinalhanf als Tee zu oder inhalierten ihn. Nur in ganz seltenen Fällen übernimmt die gesetzliche Krankenversicherung die Kosten.