Warum Antibiotika zur Behandlung der Dünndarmfehlbesiedlung und des Reizdarmsyndroms keine gute Idee sind

Antibiotika bei Dünndarmfehlbesiedlung? Viele gute Gründe sprechen dagegen.
Bild: Tim Reckmann via pixelio.de

Kommt der Reizdarmpatient endlich in die Hände eines progressiven Gastroenterologen, wird er sehr wahrscheinlich auch anhand eines Glukose- und/oder Laktuloseatemtests auf das Vorliegen einer Dünndarmfehlbesiedlung (kurz DDFB; engl. small intestinal bacterial overgrowth - SIBO) untersucht.

Die Chancen auf einen positiven Befund sind dabei hoch, denn in Studien wurden an Reizdarm-Betroffenen Raten bis zu gewaltigen 85% der Probanden verzeichnet (siehe bspw. Bures und Kollegen, 2010).

 

Lassen wir die Problematik der Atemgastestinterpretation (welche Kurven werden als DDFB verstanden) und des Ursache-Wirkungs-Prinzips (Entwickeln Reizdarmpatienten eher eine Dünndarmfehlbesiedlung ODER haben sie einen Reizdarm gerade weil sie eine solche Fehlbesiedlung haben?) außen vor. Fakt ist, dass sich die Symptome des Reizdarms durch die Reduzierung bzw. Elimination der Dünndarmfehlbesiedlung erheblich bessern (u.a. Ghoshal und Kollegen, 2016). Zu diesem Zweck ist das Verschreiben eines Breitbandantibiotikums das Mittel der Wahl für viele Mediziner.

 

Warum diese Idee aber nicht unbedingt die beste sein muss, besprechen wir in diesem Artikel.

 


Pharma oder nicht-Pharma, das ist hier die Frage?

Bevor wir zu den eigentlichen Argumenten kommen, sei noch eine kleine Vorbemerkung gestattet. Ich beobachte in den letzten Monaten und Jahren häufig, wie sich die Welt immer weiter polarisiert und in Lager aufspaltet. Dabei geht meiner Einschätzung nach immer weiter die Fähigkeit zu differenzieren verloren. Deshalb möchte ich kurz meinen Standpunkt erläutern, bevor ich missverstanden werde.

Ich stehe vielen Aspekten der modernen Schulmedizin und auch einigen Machenschaften der Pharmaindustrie durchaus kritisch gegenüber. Zum Beispiel habe ich ein gewaltiges Problem damit, wenn Profitstreben ein bedeutender Aufhänger unseres Gesundheitssystems ist, Patienten als Kunden verstanden werden und ihr Wohlbefinden oder ihre Sicherheit außer acht gelassen wird.

Allerdings bin ich auch unheimlich froh über viele Errungenschaften eben jener Medizin und nicht per se gegen den Einsatz von Psychopharmaka, Antibiotika und Co. Es sollte meiner Meinung nach aber eine bessere Einschätzung der Kosten-Nutzen-Relation erfolgen. Muss ich diesem Patienten wirklich ein Antibiotikum verschreiben, oder reichen ihm zwei Tage Ruhe? Profitiert ein Klient vielleicht eher von einem Stressmanagementtraining? Welche potentiellen Nebenwirkungen sind bei der vorliegenden Individualität zu erwarten?

 

Die Entscheidung für oder gegen "chemische Mittel" sollte nicht grundsätzlich fallen, sondern immer für den Einzelfall abgewogen werden. In unserem Beispiel: Nicht jeder Patient ist bereit, seine Ernährung umzustellen, Supplemente zu nehmen und Stress zu reduzieren. Manchen Menschen fehlen schlicht auch Ressourcen im kognitiven oder physischen Bereich. Einem Patienten mit Depressionen und schwersten Durchfällen kann man nur schwer eine langfristige Diät "aufbrummen". Da ist ein Antibiotikum vielleicht manchmal der richtige Kickstart!

 

 

Antibiotika gegen RDS und DDFB

 

Populär wurde der antibiotische Therapieansatz besonders durch das Forscherteam um Dr. Mark Pimentel. Obwohl es bereits vorher wissenschaftliche Untersuchungen und vor allem Fallsammlungen gab, welche ein positives Ansprechen des Reizdarmsyndroms auf Antibiotika vermuten ließen, zeigte Pimentel den Zusammenhang zur Dünndarmfehlbesiedlung (in seinen ersten Untersuchungen immerhin 78% der RDS-Patienten) und veröffentlichte seine Hypothese u.a. in dem Buch "A New IBS-Solution".

 

 

 

Dr. Pimentel setzt zur Therapie der Dünndarmfehlbesiedlung vor allem die Breitbandantibiotika Rifaximin und Neomycin ein. Diese haben den Vorteil, dass sie nicht nur recht effektiv sind (eine 10-tägige Kur mit Rifaximin eliminiert nachweislich die DDFB vieler Patienten),  sondern aufgrund ihrer besonderen Struktur zum Großteil im Magen-Darm-Trakt wirken und damit über erheblich weniger Nebenwirkungen verfügen als vergleichbare systemische Antibiotika.

 

Die frühzeitige Behandlung einer Dünndarmfehlbesiedlung kann ernsthafte Konsequenzen (Malabsorption, Fettverdauungsstörung, Mikronährstoffmängel etc.) verhindern.

 

 

Gegenargument I: Antibiotika nicht effektiver als andere verfügbare Methoden

 

Pflanzliche antibiotische Substanzen (Chedid und Kollegen, 2014) und Elementardiät (Pimentel und Kollegen, 2004) waren dem Einsatz von Rifaximin in Studien überlegen.

Wir haben beide Möglichkeiten bereits auf unserem Blog ausführlich besprochen.

 

 

Gegenargument II: Hohe Rückfallraten nach Antibiose

 

In einer Studie an 80 Patienten mit einer Dünndarmfehlbesiedlung zeigten Lauritano und Kollegen (2008) hohe Rückfallraten nach der Auslöschung der Fehlbesiedlung mittels Rifaximin.  Waren nach sechs Monaten bereits wieder ein Drittel der Atemgastests positiv, ergaben die Messungen nach neun Monaten in annähernd der Hälfte der Probanden ein positives Ergebnis. Die wiederkehrenden Symptome stiegen mit der Zeit stark an.

 

Eine Antibiose mittels Rifaximin ist also keinesfalls eine Dauerlösung.

 

 

Hohe Rückfallquoten für Dünndarmfehlbesiedlung und Reizdarm nach Rifaximin
Quelle: Lauritano et al (2008)

Gegenargument III: Antibiotika töten schlechte UND gute Bakterien

 

Breitbandantibiotika wirken natürlich nicht nur auf die Dünndarmfehlbesiedlung, sondern bringen auch das Verhältnis von probiotischen und potentiell-pathogenen Bakterien im Dickdarm durcheinander. Dies ist vermutlich ein Grund, warum Antibiotika auch ein AUSLÖSER für das Reizdarmsyndrom bzw. chronisch-entzündliche Darmerkrankungen sein können (siehe etwa Villarreal und Kollegen, 2012).

 

 

Gegenargument IV: Nebenwirkungen

 

Obwohl Antibiotika durch ihre regelmäßige Verschreibung bei jeglichen Infekten bei vielen Laien einen Stellenwert als sicheres Mittel erworben haben, sind die Nebenwirkungen von Durchfällen über Übelkeit bis hin zu Schwindel und Erschöpfung nicht zu unterschätzen. 

 

 

Gegenargument V: Clostridium difficile

 

Eine gesunde Darmflora mit probiotischen Bakterien schützt uns Menschen vor einem Bakterienstamm namens Clostridium difficile. Durch das Auslöschen auch guter Bakterien wird der Weg für dieses "Super-Pathogen" frei. Einmal im Darm angesiedelt, produziert es Toxine, welche schwere Durchfälle und Entzündungen provozieren. Dies kann zu einer so genannten "pseudomembranösen Kolitis" führen, einer potentiell lebensgefährlichen Entzündung des Dickdarms.

 

Der Zusammenhang zwischen Antibiotikanutzung und Clostridien-difficile-Infektionen ist so gut bestätigt, dass die Mediziner auch vom "antibiotika-assoziierten Durchfall" sprechen.

 

 

Gegenargument VI: Resistenzen

 

Wie bereits weiter oben beschrieben, bin ich sehr dankbar, dass es Antibiotika gibt. Denn diese haben bei wirklich schwerwiegenden Infektionskrankheiten buchstäblich Leben gerettet. Die Überversorgung mit diesem Medikament (und natürlich auch die Nutzung als Mastmittel) führen jedoch dazu, dass es immer mehr resistente Bakterienstämme gibt.

 

 

Fazit: Antibiotikatherapie als letzter Strohhalm

 

Wie ich in der Einleitung anmerkte, muss die Entscheidung für oder gegen Antibiotika bei Dünndarmfehlbesiedlung eine Einzelfallentscheidung sein. Bei der Zusammenschau der Fakten steht für mich aber auch fest, dass die Antibiose nur in den seltensten Fällen die schweren Kosten (Nebenwirkungen, potentiell C-diff, zerstörte Darmflora) rechtfertigen, zumal

 

  1. verträglichere UND effektivere Möglichkeiten zur Verfügung stehen
  2. die Gabe von Antibiotika wie Rifaximin aufgrund der hohen Rückfallrate regelmäßig erfolgen müsste, um Beschwerden dauerhaft zu reduzieren.

 

Ich empfehle deshalb, die Breitbandantibiotika als eine Art "Reservetherapie" in der Hinterhand zu behalten. Bringen Ernährungsumstellung, Elementardiät und/oder pflanzliche antimikrobielle Wirkstoffe nicht den gewünschten Effekt, dann sind sie sicherlich eine Option.

 

Auf keinen Fall sollte mit diesen Medikamenten aber leichtfertig umgegangen werden! Dafür ist unser Mikrobiom zu anfällig und die Interaktionen mit der Biochemie etc. zu komplex.

 

Ihr Thomas Struppe