Angsterkrankungen und Reizdarm: Eine Übersicht

Angsterkrankungen und das Reizdarmsyndrom sind fest miteinander verwachsen
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Welche Rolle spielen Angsterkrankungen bei der Pathogenese des Reizdarmsyndroms?

 

Bei der Beantwortung dieser Frage gehen die Meinungen der Betroffenen, aber auch der Ärzte und Psychologen weit auseinander. Unumstößlich scheint dabei nur der Fakt zu sein, dass unter Reizdarmleidenden vermehrt Angst, Stresserleben, Sorgen und Neurotizismus gemessen werden.

Für die einen ist das die logische Folge einer chronischen Erkrankung, welche das Berufs- und Sozialleben der Betroffenen massiv einschränkt (meist die Sicht der Betroffenen selbst). Viele Forscher halten mit Ergebnissen gegen, wonach besonders ängstliche Menschen (oder allgemein Personen mit psychiatrischen Diagnosen) eher einen Reizdarm entwickeln (etwa nach einer akuten Darminfektion). Aus diesem Grund wurde sogar einmal diskutiert, das Reizdarmsyndrom den affektiven Störungen zuzuordnen(!).

 

In einer neuen interessanten Forschungsarbeit stellen die Wissenschaftler Popa und Dumitrascu die zentralen Ergebnisse der letzten zehn Jahre zu diesem Themenkomplex vor. Ich habe einige der interessantesten Fakten für meine Leser übersetzt und zusammengefasst, denn ich glaube, dass diese für Betroffene genauso interessant sein dürften, wie für mich als Psychologen mit dem Schwerpunkt RDS, geben sie doch einen tieferen Einblick in dieses kontrovers diskutierte Thema.

 


Angst und Reizdarm - eine unheilige Allianz

Angst ist per Definition die Reaktion auf eine langfristige, nicht-vorhersehbare Bedrohung. Durch diese beiden Eigenschaften unterscheidet sie sich maßgeblich von der Furcht, einer Reaktion auf akute und vorhersagbare Bedrohungen. Beide Zustände gehen mit physiologischen, affektiven und kognitiven Veränderungen einher und werden deshalb von uns Menschen als teilweise überwältigend erlebt.

Die Psychiatrie unterscheidet verschiedene Angststörungen, darunter die Generalisierte Angststörung, Phobien (bspw. Soziale Ängste), die Panikstörung oder auch die Posttraumatische Belastungsstörung. Kaum eine Angststörung liegt dabei in "Reinform" vor, regelmäßig überlappen Symptome und Biomarker mit denen einer Depression.


Die Korrelation zwischen dem Reizdarmsyndrom und verschiedenen Angsterkrankungen ist hoch. Immer wieder konnte gezeigt werden, dass Stressoren die typischen Beschwerden verschlimmern und somit erheblich zu einer ineffizienten Therapie beitragen. Die Komorbidität von Reizdarm und stress-bezogenen psychiatrischen Erkrankungen liegt dabei bei bis zu 50%, sprich: jeder zweite RDS-Betroffene erfüllt die diagnostischen Kriterien einer psychiatrischen Diagnose!



Zentrale Ergebnisse des ersten Untersuchungszeitraums (bis 2005)

Zuerst erfahren wir aus dem Report, dass Reizdarm-Betroffene nicht nur übermäßig häufig positiv auf klassische Angst- und Depressionsmedikamente (trizyklische Antidepressiva, Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer) ansprechen, sondern auch dass in vergangenen Untersuchungen eine gehäufte Familienanamnese für Angststörungen und Depressionen gemessen werden konnte. Gab es die Diagnosen Angststörung bzw. Depression in der näheren Verwandtschaft, erhöhte sich also die Wahrscheinlichkeit ein Reizdarmsyndrom zu entwickeln. Diese Ergebnisse führten zu einer Diskussion, ob man das Reizdarmsyndrom als "affektive Störung" klassifizieren sollte, was der komplexen Erkrankung nicht gerecht geworden wäre (Meinung des Autors).


Eine klinische Studie verglich die Raten psychiatrischer Diagnosen und stellte dabei fest, dass Reizdarm-Betroffene weitaus häufiger betroffen waren, als gesunde Vergleichspersonen. So weit, so offensichtlich. Viele meiner Leser werden hier einhaken und behaupten, dass dies lediglich durch die Symptome und deren Auswirkungen auf unser Leben begründet sei. ABER: Die Studie untersuchte auch Betroffene mit Morbus Crohn und Colitis ulcerosa. Reizdarm-Betroffene erfüllten häufiger die Kriterien für eine psychiatrische Diagnose als Patienten mit chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen. Auch in der Familienanamnese tauchten häufiger Depressionen und Ängste auf. Sollten Menschen mit Colitis und oft massiveren, einschränkenderen Symptomen dann nicht auch vermehrt unter Depressionen etc. leiden? Gibt es vielleicht einen anderen Zusammenhang zwischen RDS und Ängsten, als den vermuteten reaktiven?


Eine weitere Studie untersuchte die biochemischen Korrelate bei Reizdarm-Patienten mit dem Hauptsymptom Durchfall. Letztere Gruppe zeigte in der Vergangenheit besonders hohe Neurotizismus-Werte und Angst-Scores. Zentrales Ergebnis: Die Reizdarm-Gruppe zeigte durchschnittlich erhöhte Serotonin- und MAO-Werte gegenüber gesunden Vergleichspersonen, was die wichtige Rolle psychiatrischer Co-Faktoren beim RDS bestätigte.


Untersuchungen an Studenten während der Prüfungszeit zeigten bei der Reizdarm-Gruppe erhöhte Scores für Neurotizismus, Sich-Sorgen, Ängstlichkeit und generalisierter Angststörung gegenüber der Kontrollgruppe.


Ein weiterer schockierender Befund: In einer Studie zeigte sich die volle Wucht des Reizdarmsyndroms. 38% der untersuchten Betroffenen hatten bereits über einen Selbstmord aufgrund ihrer Darmsymptomatik und den damit verbundenen Einschränkungen und Schmerzen nachgedacht. Diese Rate war mehr als doppelt so hoch als bei Patienten mit aktiver chronisch-entzündlicher Darmerkrankung!



Zentrale Ergebnisse des zweiten Untersuchungsabschnitts (bis 2015)

Eine Analyse zeigte starke Verbindungen zwischen dem Reizdarmsyndrom und den Faktoren Angst, Somatisierung, depressiven Subskalen und paranoiden Ideen auf.


Eine Forschergruppe teilte Patienten mit Durchfall und RDS-Diagnose in eine Gruppe mit Ängsten und eine Gruppe ohne Ängste. Die Wissenschaftler zeigten daraufhin in Stuhl- und Blutuntersuchungen eine erhöhte Konzentration von proinflammatorischen Zytokinen der Angst-Probanden.

Bei den Betroffenen mit Ängsten begann die Darm-Erkrankung schon in jungen Jahren.


Weiterhin wurde untersucht, wie psychiatrische Störungen das neuroendokrine Netzwerk beeinflussen. So fanden die Forscher u.a. heraus, dass Patienten mit einem Reizdarmsyndrom höhere gastrointestinale Hormonkonzentrationen (SS und VIP) aufwiesen.


Mehrere neue Untersuchungen aus verschiedenen Erdregionen unterstrichen außerdem nochmals den hohen Zusammenhang zwischen Reizdarm und psychiatrischen Erkrankungen.



Was lernen wir daraus?

Ich hoffe, dass uns diese Ergebnisse bewusst machen, wie real der Zusammenhang zwischen den beiden Störungen eigentlich ist. Es handelt sich tatsächlich um eine multifaktorielle, biopsychosoziale Erkrankung, die wir auch holistisch angehen müssen. Stressmanagement, Psychotherapie und selbst auch Psychopharmaka können einen erheblichen Unterschied bei der Behandlung machen.


Vielleicht konnte ich auch etwas Verständnis für meine Zunft wecken? Die Unterscheidung zwischen psychiatrischen Störungen (bspw. Angsterkrankung oder Somatisierungsstörung) und einer rein körperlichen Erkrankung fällt oft schwer. Noch problematischer wird dies, wenn die Grenzen zwischen beiden Welten, wie beim Reizdarmsyndrom, verschwimmen. Welche Störung provoziert hier eigentlich welche Symptome? Sprechen Sie mit Ihrem Psychologen darüber! Die Welt ist nicht Schwarz oder Weiß. Viele von uns müssen auf mehreren Ebenen arbeiten, um zum bestmöglichsten Ergebnis zu gelangen. Vor allem: Jeder muss die für sich individuell beste Therapie entdecken und auch konsequent dabei sein.


Fahren Sie also das nächste Mal bitte nicht gleich aus der Haut, wenn Ihr Arzt Ihnen den Gang zum Psychologen, oder zum Entspannungstraining empfiehlt. Wissenschaftlich gesehen hat dies nämlich durchaus seine Berechtigung.


Alles Gute und einen friedvollen Darm

Ihr Thomas Struppe