Reizdarm und Entzündungen?

Kennen Sie das vielleicht auch? Viele meiner neuen Klienten glauben nach einer längeren Zeit ohne Therapieerfolge endgültig, was ihnen Ärzte und Bekannte schon seit Jahren erzählen: "Du bist nicht krank, du hast nur was am Kopf! Du musst endlich mal Stress abbauen." Schließlich wurden beim Reizdarm ja keine pathophysiologischen Veränderungen dokumentiert, oder?

Ich bin sehr überrascht, dass mir vor kurzem sogar ein Mb.-Crohn Betroffener schrieb, was ich denn für einen riesigen Aufriss um das RDS machen würde. Die Erkrankung wäre ja gar nicht so schlimm, eigentlich ungefährlich und ließe sich gut managen. Ich würde dazu beitragen, meine Leser zu verängstigen. Wirklich? Oder ist das gerade ein Schlag ins Gesicht für die "schwierigeren Fälle", die ich regelmäßig betreue? Gelten zweistellige Durchfälle über den Tag, Schmerzen, Chronic Fatigue, Depressionen etc. etwa als Lapalie, oder vielleicht sogar als Hirngespinst?

 

In dieser Reihe von Blogartikeln möchte ich Ihnen gern zeigen, dass es sehr wohl Hinweise für pathophysiologisch dokumentierbare Prozesse bei Reizdarmpatienten gibt, auch wenn ich es schade finde, dass man seine Erkrankung und sein Leiden auch noch vor Betroffenen anderer Erkrankungen, Bekannten und Verwandten und teilweise sogar Ärzten rechtfertigen muss. Als hätten wir nicht genug mit der Bewältigung unserer Krankheit zu tun!

 

Wir beginnen mit den Entzündungen.

 


Welche Hinweise gibt es, dass der Reizdarm in Wahrheit eine entzündliche Erkrankung ist?

Erst einmal muss ich zu bedenken geben, dass die Pathophysiologie des Reizdarmsyndroms von den Wissenschaftlern heute immer noch so gut wie nicht erklärbar ist. Alle angesprochenen Hypothesen sind eben nicht mehr und nicht weniger als das - Vermutungen. Die typischen aktuell vertretenen Hypothesen sind:

  • veränderte Darmmotilität (Durch was verändert? Frage des Autors)
  • viszerale Überempfindlichkeit (Ballonversuche)
  • psychosoziale Faktoren
  • Gehirn- Darm- Interaktionen (Moderiert über Flora?)
  • geringgradige Entzündungen
  • veränderte Darmflora
  • genetische Faktoren

Dieser Umstand trägt natürlich dazu bei, dass der Reizdarm immer noch nicht klar diagnostiziert werden kann. Es gibt noch keine allgemein anerkannten Biomarker, oder keinen sichtbaren Nachweis etwa bei der Spiegelung, welche das RDS sicher bestimmen könnten. Es ist also eine Ausschlussdiagnose, welche sich auf eine bestimmte Symptomkonstellation stützt. Dies wiederum trägt zu dem Vorurteil bei, dass das RDS ja keine wirkliche Erkrankung sei, oder eben fix in die Ecke "psychisch- psychiatrisch- psychosomatisch" geschoben wird. Frei nach dem Motto: "Wenn nichts gefunden werden kann, dann ist es auch nicht schlimm!"


Ich möchte beim letzten Satz kurz einhaken und daran erinnern, dass man auch die Colitis ulcerosa, oder auch das Magengeschwür einst als klassisch "psychosomatisch" verklärte. Bei letzterem half letztendlich die Entdeckung des Helicobacter pylori. Aus einer "Managerkrankheit", welche durch zu viel Stress verursacht wurde, wurde über Nacht eine Infektionskrankheit, welche noch dazu gut behandelbar war. Vielleicht erleben wir das selbe Phänomen in einigen Jahren beim Reizdarm?


Aber ist da wirklich nichts zu finden?

Clarke und Kollegen (2009) betrachten eine ganze Reihe potenzieller Biomarker zur Diagnosefindung und stellen vor allem zahlreiche Studien vor, welche auf einen Entzündungsprozess beim Reizdarmsyndrom hinweisen. Die Rolle des Immunsystems bei Entstehung und Aufrechterhaltung der Erkrankung rückt immer mehr in den Fokus der Forscher.


So konnten Hod und Kollegen (2011) zeigen, dass Patienten mit RDS ein signifikant erhöhtes hs-CRP aufweisen, was auf Mikroentzündungen schließen lässt. Interessanterweise waren die Werte am höchsten, wenn die Betroffenen unter Durchfall litten und über starke Symptome klagten. Dieser Biomarker sagte also sogar etwas über die Intensität der Erkrankung aus. Anhand der hs-CRP Werte konnte immerhin mit einer Spezifität von fast 70% ein RDS-Patient von einer Kontrollperson unterschieden werden. Die Wissenschaftler zogen das Fazit, dass ihre Ergebnisse eine Unterstützung der Entzündungshypothese sein könnten.


Bereits 2002 untersuchten Chadwick und Kollegen die Biopsien von Reizdarmpatienten und zeigten eine erhöhte Zahl von aktivierten immunokompetenten Zellen in nahezu allen Proben. In rund der Hälfte aller Patienten wurden aktive Entzündungsvorgänge dokumentiert.


Eine weitere interessante Studie stammt von Lembo und Kollegen (2009). Die Gruppe von Wissenschaftlern suchte nach Biomarkern im Blut, welche Reizdarm- Betroffene von gesunden Kontrollpersonen und Patienten mit anderen Darmkrankheiten unterscheiden konnten. Sie legten sich schließlich auf 10 verschiedene Blutwerte fest. Deren Spezifität lag bei 88% und die gesamte Genauigkeit bei über 70%!


Auch die sehr positiven Studien mit Mesalazin, welches eigentlich zur Behandlung der chronisch entzündlichen Darmerkrankungen eingesetzt wird, bspw. Doroveyev und Kollegen (2011) mit deutlich reduzierten Schmerzen und besserer Stuhlkonsistenz, ergänzen dieses klinische Puzzle.



Wir haben also sowohl deutliche Hinweise auf das Vorhandensein von Entzündungsprozessen, als auch Blutwerte, welche auf dieser Grundlage recht gut zwischen RDS, Gesunden und bspw. Colitis-Patienten unterscheiden können. Dass beim Reizdarm also nichts zu finden ist - war, ist und bleibt ein absolutes Vorurteil, welches den Betroffenen schweren Schaden zufügt ("funktionelle Spinner").


Vielleicht werden diese Biomarker einmal dazu beitragen, dass ein Reizdarm ordentlich diagnostiziert werden kann. Die heutigen Diagnosekriterien sind leider ein Witz und viele Patienten fragen sich, ob nicht vielleicht etwas übersehen wurde. Ich habe sogar schon Klienten betreut, die außer einem Anamnesegespräch und einem Ultraschall keinerlei Diagnostik bekommen haben ... und dennoch als Reizdarm- Betroffene gestempelt wurden.

Wir können nur hoffen und natürlich darum kämpfen, dass diesem Umstand mehr Beachtung geschenkt wird. Einerseits ist das natürlich absolut wichtig für die Entwicklung neuerer und effektiverer Therapieansätze. Wie oben bereits angedeutet, muss ein Teil der Reizdarmpatienten vielleicht eher wie ein CED- Betroffener behandelt werden. Welche Patienten von bspw. einer Behandlung mit Mesalazin profitieren, könnte über Marker wie das hs-CRP bestimmt werden.

Andererseits ist die Forschung in diesem Bereich absolut wichtig für unseren Status als Patientengruppe. Wir haben keine psychisch- verursachte Erkrankung, sondern nachweisbare Entzündungsprozesse. Nehmt uns also gefälligst ernst! Das gilt für unser soziales Umfeld genauso wie für Hausärzte usw.


Im nächsten Teil werden wir uns dann mit Infektionen beschäftigen.