In meiner täglichen Beratungstätigkeit, aber vor allem in E- Mails taucht in letzter Zeit immer wieder das Thema "Schwerbehinderung oder eher Arbeitsrecht und Reizdarm" auf. Dieses betrifft
natürlich hauptsächlich die schwierigeren Fälle, welche mit der natürlichen und medikamentösen Reizdarm Behandlung nur unzureichende Fortschritte erzielen können.
"Wie soll es mit der Arbeit weitergehen?", "Noch eine Woche Krankschreibung und meine Chefin schmeisst mich bestimmt raus!" und "Wie soll ich unsere Familie ernähren?", sind einige Beispiele für Sätze, mit denen ich mich regelmäßig konfrontiert sehe.
Ich kann diese Fragen natürlich nicht für jeden Leser individuell klären, aber wenigstens ein paar allgemeingültige Hinweise geben. Beginnen wir diese Debatte erst einmal mit der Schwerbehinderteneigenschaft.
Vorweg: Auch wenn der Reizdarm oft ohne größere Komplikationen verläuft, so ist es dennoch möglich, dass er in einigen Fällen "ausartet". Dies kann einerseits die klassischen Symptome Durchfall,
Verstopfung und Schmerzen betreffen (Intensität oder Häufigkeit), oder aber die oft mit dem Reizdarm gemeinsam auftetenden Begleiterscheinungen (Depressionen, Soziale Angsterkrankung,
Mangelernährung usw).
Was viele der therapieresistenten Patienten leider nicht wissen:
Als Reizdarmpatient mit ausgeprägten Beschwerden kann man sehr wohl beim Versorgungsamt einen Antrag auf Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft stellen.
In den Richtlinien zur Einordnung der einzelnen Erkrankungen in die Bewertung nach GdB- Punkten (Grad der Behinderung) wird ein Reizdarm mit chronischen Beschwerden allein schon mit 20-30 bewertet. Ab einem GdB von 30 kann man sich einem Schwerbehinderten gleichstellen lassen und bspw. typische arbeitsrechtliche Vergünstigungen in Anspruch nehmen.
Kam es durch den Reizdarm weiterhin zu einem "erheblichen Kräfteverlust bspw. aufgrund eines unzureichenden Ernährungszustandes" können sogar 50 GdB- Punkte vergeben werden. Diese Grenze kennzeichnet den eigentlichen Schwerbehindertenstatus.
Noch einmal: Ein ausgeprägtes RDS mit Untergewicht oder ähnlichen Folgen kann schon "allein" eine Schwerbehinderteneigenschaft rechtfertigen!
Gerade die "hartnäckigen Fälle" können aber meist auf eine ganze Liste an Begleiterkrankungen verweisen. So werden die GdB- Punkte für diese weiteren Beeinträchtigungen aufaddiert und ergeben dann den endgültigen Grad der Behinderung.
Leider vermeiden es immer noch viele Ärzte, Therapeuten und Ämter, auf diese plausible Möglichkeit hinzuweisen. Aber auch viele Betroffene sträuben sich gegen diesen Gedanken. Ein Reizdarmsyndrom ist begrifflich ohnehin sehr negativ aufgeladen. Ein Großteil des persönlichen Umfeldes der Patienten erkennt das RDS recht häufig nicht als "wirkliche" Erkrankung an. Verständlicherweise halten sich die Betroffenen dann mit ihren offensiven Schritten zurück.
Sie haben oft Bedenken, dass sie sich anmaßen würden, ihre Lage mit "wirklich schlimmen" Krankheiten zu vergleichen. Aber darum geht es beim GdB gar nicht. Dieser bewertet nicht verschiedene Krankheiten untereinander im Sinne einer Rangliste. Vielmehr geht es um die individuell vorliegenden Funktionseinschränkungen.
Die Schwerbehinderteneigenschaft ist ein Steuerungsinstrument. Dem Staat ist sehr wohl daran gelegen, Menschen mit eben diesen Funktionseinschränkungen dazu zu animieren, weiter zu arbeiten. Arbeit ist nicht nur ein Schutz vor Armut, sondern auch vor einer Krankheitsverschlechterung. Dies konnte in vielen Studien nachgewiesen werden.
Kurz: Es ist besser, mit einem GdB und einigen Vergünstigungen zu arbeiten, als sich dem Job nicht mehr gewachsen zu fühlen.
"Etwas Pupsen und Bauchgrummeln sind doch keine Behinderung!"
Diesen Satz musste sich vor längerer Zeit eine meiner Klientinnen anhören. Nicht von ihren Kollegen und nicht von ihren Sportkameradinnen. Von ihrem behandelnden Hausarzt! Es ist mir komplett unverständlich, wie es jemandem in einem solchen Beruf derart an Empathie mangeln kann. Hatte er ihr nicht zugehört? Hatte der Psychotherapeut nicht eine rezidivierende mittelgradige Depression aufgrund der organischen Beschwerden bescheinigt?
Es handelte sich übrigens um eine zweifache Mutter mit Untergewicht, täglichen Durchfällen, starken Schmerzen usw. Sie bekam einen Schwerbehindertenausweis mit dem GdB60 ausgestellt, nachdem wir sorgfältig alle Befunde von Fachärzten gesammelt und den Antrag beim Versorgungsamt eingereicht hatten.
Welche Vorteile bringt der GdB bei einem Reizdarm?
Sie sollten immer gut abwägen, ob Ihnen die Schwerbehinderteneigenschaft nützt und ob Sie den GdB gegenüber dem Arbeitgeber geltend machen. Einige Arbeitgeber sind leider immer noch der
Meinung, ein GdB gehe mit einer verminderten Produktivität einher. Aber nur bei der Geltendmachtung kann man bspw. Sonderurlaub einfordern.
Vorteile, die mit einer anerkannten Schwerbehinderung einhergehen können:
- besonderer Kündigungsschutz
- Sonderurlaub
- keine Mehrarbeit
- Hilfe bei Suche und Gestaltung des Arbeitsplatzes durch Fachdienste
- steuerliche Vorteile
- Vergünstigungen bei der Rentenversicherung
- Euro- WC- Schlüssel (Behindertentoiletten bspw. auf Rasthöfen, in Innenstädten usw.)
Die Mühe und Arbeit kann sich für schwerer betroffene Reizdarmpatienten also sehr wohl lohnen. Genauer können Sie sich u.a. bei der Agentur für Arbeit und anderen Trägern informieren!