Gibt es eine Reizdarm-Persönlichkeit?

Gibt es eine Reizdarm-Persönlichkeit? Ja, meinen die Wissenschaftler!
Bild: Segovax via pixelio.de

Als Selbstbetroffener und Psychologe, welcher u.a. mit funktionellen Magen- und Darmstörungen arbeitet, interessiert mich natürlich brennend die Frage, ob es so etwas gibt wie eine "Reizdarm-Persönlichkeit". Schon früh während meiner Fokussierung auf den Schwerpunkt Reizdarmsyndrom kam ich mit Hypothesen in Kontakt, dass Reizdarmbetroffene von einer bestimmten Persönlichkeitsstruktur geprägt seien, etwa das ein Großteil von ihnen versuche, es anderen in der Familie oder auf Arbeit um jeden Preis recht zu machen bzw. zu "duckmäusern" und dabei ihre eigenen Vorstellungen und Ideale zu unterdrücken. Auf diese Vorstellungen traf ich nicht nur innerhalb der Psychoanalyse, sondern bspw. auch im von mir verwendeten Leitfaden für Kognitive Verhaltenstherapie beim Reizdarmsyndrom nach Prof. Dr. Brenda Toner. Häufig waren es klinische praktische Erfahrungen, welche die Forscher zu ihren Schlüssen bewegten, doch waren diese Aussagen denn dann gerechtfertigt? Schließlich klingt es mehr als plausibel, dass sich eher RDS-Leidende in psychotherapeutische Behandlung begeben würden, welche eben selbst um ihre psychischen Besonderheiten wissen. Darf man von dieser Gruppe auf die Grundgesamtheit aller Betroffenen schließen?

 

Was sagt denn die Wissenschaft zu diesem äußerst interessanten Thema?

 

 


Unsere Persönlichkeit auf fünf Faktoren?

 

Um sich der Frage nach einer Persönlichkeitsstruktur beim Reizdarmsyndrom zu nähern, nutzen wir zuerst das so genannte Fünf-Faktoren-Modell, welches in der Psychologie auch die "Big Five" genannt wird. Dieses Modell, welches bereits in den 1930er Jahren erprobt wurde postuliert, dass sich jeder Mensch auf fünf bestimmten Faktoren einordnen lässt. Die Grundlage für diese Annahme bildete der "lexikalische Ansatz" (Ausprägungen von Persönlichkeitseigenschaften schlagen sich in der jeweiligen Sprache nieder) und daraus resultierende Faktorenanalysen.

 

Bei den fünf Eigenschaften handelt es sich um:

 

Faktor Schwache Ausprägung Starke Ausprägung
 Neurotizismus

selbstsicher

ruhig 

emotional

verletzlich

Extraversion

zurückhaltend

reserviert

gesellig

Offenheit für

Erfahrungen

konsistent

vorsichtig

erfinderisch

neugierig

Gewissenhaftigkeit

unbekümmert

nachlässig

effektiv

organisiert

Verträglichkeit

kompetitiv

misstrauisch

kooperativ

freundlich

mitfühlend

 

 

Wie sieht es mit uns Reizdarmpatienten auf diesem Fünf-Faktoren-Modell aus? Weichen wir als Gruppe deutlich von den "Normalos" ab? Was glauben Sie? Wohlgemerkt geht es dabei nicht um Einzelfälle, sondern um Mittelwerte ganzer Gruppen.

 

Farnam und Kollegen (2008) untersuchten genau diesen Sachverhalt. Dafür nutzten sie die Ergebnisse von 166 Reizdarm-Patienten, bei welchen vorher alle organischen Erkrankungen (CED, Zöliakie etc.) ausgeschlossen worden waren. Die Diagnosefindung geschah noch nach den ROM-II-Kriterien. Die Stichprobe spiegelte relativ gut die Gesamtheit der Patienten wider (Mittleres Alter 33 Jahre, 60% weiblich, Mittlere Krankheitsdauer 4 Jahre).

 

Zentrales Ergebnis:

Im Vergleich zur gesunden Vergleichsgruppe hatten die Reizdarmpatienten als Gruppe signifikant höhere Neurotizismuswerte, sowie signifikant niedrigere Scores in Verträglichkeit und Offenheit für Erfahrungen. Es wurde ein Zusammenhang zwischen erlebten Stressoren und Symptomverschlimmerung berichtet.

 

Schauen wir noch einmal in die obige Tabelle: Sind wir tatsächlich emotionaler, verletzlicher, vorsichtiger und misstrauischer als "die Gesunden"?

 

 

Wie sieht es denn mit anderen ähnlichen Erkrankungen aus?

 

Nehmen wir mal an, wir würden die oben gestellte Frage mit "Ja" beantworten. Wie sieht es mit anderen Erkrankungen aus? Unterscheiden wir uns auch signifikant von der Persönlichkeit Betroffener anderer Störungen?

 

Talley und Kollegen (1990) verglichen die Persönlichkeitseigenschaften von Patienten mit Reizdarmsyndrom, Dyspepsie, CED und somatoformer Störung (körperliche Beschwerden ohne organischen Befund). Sie nutzten dafür das MMPI (Minnesota Multiphasic Personality Inventory).

 

Zentrales Ergebnis:

Patienten mit Reizdarmsyndrom, Dyspepsie oder chronisch-entzündlicher Darmerkrankung unterschieden sich in allen Skalen ihrer Persönlichkeitsstruktur signifikant von Patienten mit somatoformer Störung und gesunden Vergleichspersonen. Hypochondrie korrelierte nur schwach mit empfundenen Schmerzen.

Die Persönlichkeitseigenschaften von durchfalldominantem und verstopfungsdominantem RDS unterschieden sich kaum. Patienten mit RDS berichteten die höchsten Stresswerte der einzelnen Versuchsgruppen.

 

 

Noch einmal zur Betonung: Reizdarmpatienten und Betroffene von CEDs unterschieden sich in nahezu allen Skalen der Persönlichkeit von Patienten mit somatoformer Störung bzw. Hypochondrie.

 

 

Dinan und Kollegen (2007) widmeten sich ebenfalls der Untersuchung von Persönlichkeitseigenschaften beim Reizdarm bzw. Reizmagen.  

 

Zentrales Ergebnis:

Die beiden Gruppen ließen sich nicht anhand diagnostizierter psychiatrischer Störungen nach DSM-III differenzieren, aber die Reizdarmgruppe zeigte deutlich höhere Neurotizismuswerte (siehe oben) und eine stärke Introvertiertheit. Weiterhin interpretierten die Reizdarmpatienten signifikant häufiger Erlebnisse als negativ.

 

 

Welchen Einfluss haben nun diese Faktoren?

 

Nehmen wir also noch einmal an, wir wären tatsächlich emotionaler, verletzlicher, misstrauischer und hätten einen Hang dazu, Erlebnisse subjektiv negativer zu bewerten, als gesunde Vergleichspersonen aber auch Betroffene anderer Erkrankungen (siehe Reizmagen). Welche Konsequenzen erwachsen uns daraus?

 

 

Auch dieser Frage haben sich die Forscher schon versucht anzunähern. So legten Van Tilburg und Kollegen (2014) ihren 286 RDS-Studienteilnehmern eine ganze Batterie von Persönlichkeitstests und anderen psychologischen Fragebogen vor. Anhand dieser Daten wurde später per Pfadanalyse ermittelt, welche psychologischen Konstrukte den größten Einfluss auf den ebenfalls erhobenen Symptomscore hatten.

 

Zentrales Ergebnis:

Den stärksten Einfluss zeigten Katastrophisieren und Somatisierung. Ein mediatorischen Effekt hatte Angst, welche beide genannten Konstrukte beeinflusste und sich wiederum durch Neurotizismus vorhersagen ließ. Gehen wir diesen Weg nun konsequent weiter, so sehen wir, dass erhöhte Neurotizismuswerte indirekt die Variablen Katastrophisieren und Somatisierung nach oben treiben und dadurch erhöhte Symptomwerte triggern.

 

 

Zur Betonung noch einmal in Kürze: Zwei psychologische Variablen, welche durch Angst bzw. Neurotizismus beeinflusst werden, treiben den körperlichen Symptomwert in die Höhe. Gleiche Schmerzen werden also durchaus unterschiedlich stark erlebt, je nach körperlicher Ausprägung.

 

 

Was war zuerst da, Henne oder Ei? Neurotizismus oder Reizdarmsyndrom?

 

Gerade höre ich schon wieder die Alarmglocken schrillen. "Alles Blödsinn, wenn ich jeden Tag unter Schmerzen leide und zehnmal auf die Toilette rennen muss, natürlich werde ich dann emotionaler und ängstlicher", werden vielleicht viele Leser denken. Und vor einigen Jahren hätte ich dazugehört und ihnen Recht gegeben. Das Leben mit dem Reizdarmsyndrom verändert die Persönlichkeit massiv.

 

Also gibt es vielleicht doch keine "Reizdarm-Persönlichkeit", sondern nur Begleiterscheinungen körperlicher Auswirkungen?

 

Dazu müssen wir uns noch einige wissenschaftliche Fakten anschauen.

 

 

Wie sieht es bspw. mit der Erblichkeit und Veränderbarkeit von Persönlichkeitseigenschaften aus?

 

Alle fünf Faktoren der Big Five zeigen eine starke genetische Komponente, wobei Neurotizismus (48%) und Verträglichkeit (42%) wohl am stärksten durch Umweltfaktoren geprägt werden können (Bouchard & McGue, 2002).

Die geschätzte Erblichkeit beim Reizdarmsyndrom liegt ebenfalls bei bis zu 57%. Die Verwandten eines Individuums mit Reizdarmsyndrom haben eine dreifach höhere Wahrscheinlichkeit ebenfalls zu erkranken (Saito, 2011).  

 

 

Gibt es Hinweise, dass eine bestimmte Persönlichkeitsstruktur die Entwicklung eines Reizdarmsyndroms fördert?

 

Ja, die gibt es tatsächlich. Inzwischen gehen viele wissenschaftliche Hypothesen davon aus, dass das Reizdarmsyndrom in vielen Fällen Folge einer akuten Magen-Darm-Infektion sei. Dies geht so weit, dass aufgrund dieser Annahme aktuell Biomarker für das RDS diskutiert werden (Pimentel und Kollegen, 2015).

Nun entwickelt aber nicht jeder, der eine Magen-Darm-Grippe erleidet ein Reizdarmsyndrom. Zum Glück muss man sagen.

 

Was unterscheidet nun aber das Fünftel, welches nach einer schweren Gastroenteritis einen Reizdarm entwickelt vom glücklichen Rest? 

 

Sie werden vielleicht staunen, aber die stärksten Faktoren sind genuin psychischer Natur: Stress, Hypochondrie, negative Erlebnisse, Ängstlichkeit (u.a. Gwee und Kollegen, 1999).  Diese Werte wurden wohlgemerkt erhoben. während die Patienten die Gastroenteritis erlitten und nicht, als sie schon das Reizdarmsyndrom entwickelt hatten.

 

Der letzte Fakt würde dafür sprechen, dass es tatsächlich eine "Reizdarm-Persönlichkeit" geben könnte, obwohl auch die Krankheit und ihre Folgen selbst natürlich die Persönlichkeit verändern können.

 

 

In einem der nächsten Artikel möchten wir darüber berichten, wie man auf einige der genannten Konstrukte gezielt Einfluss nehmen kann, um seine erlebten Beschwerden zu dämpfen.

 

Bleiben (oder werden) Sie bitte gesund!

Ihre Redaktion