Die richtige Diagnosestellung beim Reizdarmsyndrom verbessert deine Therapie und schützt dich vor Risiken!

In diesem Kapitel lernst Du ...

Warum bezüglich der durchzuführenden Diagnostik häufig eine kräftige Diskrepanz zwischen Arzt und Patient herrscht.

Welche Argumente für und wider ein Mehr an Untersuchungen beim Reizdarm sprechen. 

Welche möglichen alternativen Erkrankungen unbedingt ausgeschlossen werden sollten (Differenzialdiagnose).

Welche obligatorischen Untersuchungen die Wissenschaft zur Diagnosestellung "Reizdarmsyndrom" empfiehlt.

Auf welche Tests im diagnostischen Prozess guten Gewissens verzichtet werden kann. 

Wie du deine Therapie durch erweiterte Laboranalysen und klinische Tests effizient verbessern kannst.

Wie ein umfassender Diagnosealgorithmus im Rahmen des Reizdarms aussehen könnte.

Magenspiegelung und Computertomographie versus Abtasten und Anamnesegespräch

Bei den individuellen Vorstellungen zu einer qualitativ hochwertigen Diagnosestellung des Reizdarmsyndroms prallen oft zwei Welten aufeinander, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Vor allem zwischen den Patienten und ihren Hausärzten (meist Allgemeinmedizinern) kann es dann zu unschönen heftigen Konflikten kommen, welche sich zumeist an der Scheidelinie "Welche Tests und Untersuchungen sind bei einem Reizdarm nötig oder aber möglich?" entzünden. Nun möchte ich schon an dieser Stelle des Kapitels feststellen, dass nicht jeder mögliche Test auch wirklich in jedem Fall Sinn macht (z.B. ist eine Darmspiegelung/Kapsel-Endoskopie usw. nicht in jedem Fall indiziert). Andererseits muss nicht jede Untersuchung, die über die Basisempfehlungen der Fachgesellschaften hinausgeht, immer auch überflüssig sein (etwa wenn funktionelle Parameter wie Gallensäureresorption oder die Leistung der Bauchspeicheldrüse neue Erkenntnisse für die Gestaltung der Therapie generieren helfen). 

 

Beide Interessenlagen sind aus meiner Sicht gut nachzuvollziehen: Die Allgemeinmediziner (aber natürlich auch die Fachärzte) haben ein bestimmtes monetäres Budget und müssen entsprechend sorgsam damit umgehen, um finanzielle Polster für etwaige Patienten mit "bedrohlicheren" Erkrankungen parat zu haben. Sie sind den Krankenkassen (und damit auch allen Beitragszahlern!) Rechenschaft über den verantwortungsbewussten Umgang mit ihren Ressourcen schuldig und folgen deshalb zumeist den Empfehlungen der verschiedenen Fachgesellschaften, dass keine weiteren Untersuchungen durchgeführt werden sollten, wenn nach dem sicheren Ausschluss von alternativen Erkrankungen die Diagnose "Reizdarmsyndrom" gestellt wurde.  Vielmehr sollte laut den Wissenschaftlern an diesem Punkt des Prozesses von wiederholten oder erweiterten Tests abgeraten und stattdessen Informationen und Bestärkungen angeboten werden (z.B. Lacy & Patel,2017). 

Auf der "anderen Seite des Tisches" befinden sich die Betroffenen mit einem Reizdarmsyndrom, welche nicht selten unter erheblichen gastrointestinalen Beschwerden (der individuelle Schweregrad der Erkrankung wird zu selten berücksichtigt), sozialen Einschränkungen und oft Komorbiditäten (Angsterkrankungen, Schlafstörungen, Muskel- und Gelenkschmerzen, Erschöpfung etc.) leiden (Whitehead et al.,2002). Sie sind, was das wiederholte Testen und Untersuchen des Reizdarms angeht, vor allem an zwei verschiedenen Komponenten interessiert:

  1. Sie befürchten, ihr Arzt könnte eine evtl. zugrunde liegende schwere organische Erkrankung durch unzureichendes oder zu seltenes Testen "übersehen" haben. Auch wenn dies nur sehr selten vorkommt, ist diese Angst nicht ganz unbegründet. So zeigen Studien immer wieder, dass einige als Reizdarm-Patienten diagnostizierte Betroffene tatsächlich unter einer Zöliakie (Zolinska et al.,2009), einer so genannten mikroskopischen Colitis (Sanchez et al.,2011) oder auch Darmkrebs (Norgaard et al.,2011) litten. Zu betonen ist allerdings, dass dies eher seltener vorkam und zumeist "klinische Warnsignale" (red flags) durch die Ärzte übersehen worden waren. 
  2. Sie hoffen, eine erweitere Diagnostik könnte ihnen neue oder bessere therapeutische Wege eröffnen. Auch dieser Gedanke ist absolut nicht aus der Luft gegriffen. So zeigt die wissenschaftliche Forschung immer wieder, dass nach der Erhebung individueller pathologischer Parameter und der anschließenden Korrektur derselben, viele Reizdarmpatienten erhebliche Verbesserungen ihrer Symptomatik bis hin zur Heilung erfahren dürfen (Leeds et al.,2010; Pimentel et al.,2000; Wedlake et al.,2009).

 

Wie können wir also diese so unterschiedlichen (aber berechtigten) Bedürfnisse und Zwänge beider Seiten in Einklang bringen?

Zuerst einmal wäre jeder der beiden Seiten schon ein Stück weit geholfen, wenn sie sich etwas mehr bemühen würde, die Bedürfnisse und Überlegungen der anderen Partei besser nachzuvollziehen. Natürlich wird ein Allgemeinmediziner, der eher an eine psychologische (eigentlich korrekt: psychogene) Ursache der Erkrankung Reizdarmsyndrom glaubt (Bradley et al.,2018), natürlich nicht zu offensiv weitere diagnostische Möglichkeiten zur Entkräftung seiner eigenen Hypothese forcieren. Auf der anderen Seite zeigen zahllose Studien zur Patientenzufriedenheit, dass ein Mehr an diagnostischen Untersuchungen beim Reizdarmsyndrom nicht zu mehr Zufriedenheit führt und gleichzeitig ein "Test-Hunger" installiert werden kann, der zum einen anderen Patienten Testkapazitäten streitig macht und zum anderen enorme (und unbegründete) Kosten verursachen kann (Quigley et al.,2018). So solltest du bei der Bitte um eine Testwiederholung im Hinterkopf behalten, dass die jährlichen Kosten des Gesundheitssystems pro Patient (also auch der leichteren Fälle) bei ca. 800,00€ liegen (Mir ist bewusst, dass diese Zahl nicht nach sonderlich viel Holz klingt, aber bitte bedenke, dass du sie mit geschätzten 13.000.000 Betroffenen in Deutschland multiplizieren musst!), welche zum größten Teil durch diagnostische Untersuchungen verursacht werden (Canavan et al.,2014)! Neuere Studien zeigen, dass ein Großteil dieser teuren Tests nicht notwendig ist und bei einem Weglassen eben dieser (unnötigen) Untersuchungen keine Gefahr für die Patienten mit einem Reizdarmsyndrom droht.

Verständnis für den anderen ist in diesem Konflikt also unerlässlich, um eine evtl. bereit bestehende Vertrauensbasis nicht zu zerstören. 

 

Für eine Annäherung der Positionen (die beide durchaus mit guten Argumenten unterfüttert werden können) ist das Festlegen gültiger Qualitätskriterien unerlässlich: Welche Tests und Untersuchungen führen bei einem Reizdarmsyndrom entweder zu einer Absicherung der Diagnose (Differenzialdiagnostik) oder aber zu einer Verbesserung der therapeutischen Optionen?  

Diese Frage ist allerdings schon recht gut durch die Wissenschaft beantwortet worden, so dass wir die gewonnenen Erkenntnisse nur in unsere Fragestellung implementieren müssen.

 

Der Reizdarm als Ergebnis einer Differenzialdiagnostik