Reizdarm, Stigma und Lebensqualität

Was denkt unser Umfeld über uns Reizdarmpatienten? Stigmatisierungen sind beim RDS leider häufig.
Bild: Stephanie Hofschlaeger via pixelio.de

Das Reizdarmsyndrom gilt heute trotz vieler neuer Erkenntnisse im Bereich der Pathophysiologie der Erkrankung (Beteiligung der Mastzellen, Mikroentzündungen etc.) als funktionelle Störung, zu deutsch - es handelt sich um eine Erkrankung ohne relevanten labormedizinischen oder histologischen Befund. In den ersten Jahrzehnten nach der Entstehung dieses Syndromkonzeptes wurden deshalb auch verstärkt psychologische Ursachen diskutiert. Dies begründeten die Ärzte mit ersten in Umfragen und Beobachtungsstudien erzielten Ergebnissen: RDS-Betroffene berichteten signifikant häufiger über traumatische Kindheitserfahrungen, erlebte psychiatrische Symptome (Depressionen, Angst, Vermeidungsverhalten) und zeigten oft ein spezifisches Persönlichkeitsprofil (Perfektionismus, zur Unterordnung neigend, aufopferungsvoll etc.).

Durch diese Charakterisierung der Außenwelt bzw. der Fachkreise erlebten die Erkrankten umgehend eine starke Stigmatisierung, im Sinne folgender Aussagen:

 

  • Du bist nicht wirklich krank.
  • Du müsstest dich nur einmal zusammenreißen.
  • Du willst dich nur drücken, bist nur zu faul.
  • Irgendetwas was du tust, schadet dir.
  • Du warst noch nie zu etwas zu gebrauchen.

 

Sehr häufig bleibt es aber nicht bei dieser wahrgenommen Stigmatisierung. Die vom Reizdarm betroffenen Personen machen sich diese Zuschreibungen zumindest teilweise zueigen und schaden sich dadurch psychologisch, aber auch körperlich, massiv selbst.

Im folgenden Artikel möchte ich auf die Gründe hinter diesem Teufelskreis eingehen.

 


Was ist ein Stigma?

 

Das Wort Stigma oder Stigmata stammt aus dem Altgriechischen und bedeutet so viel wie Wundmal oder auch Stich. Damals bezeichnete es die Markierungen und Zeichen, welche Sklaven eingebrannt wurden, um ihren Stand zu verdeutlichen und den Besitzer zu kennzeichnen. In späteren Jahrhunderten wurde der Begriff häufig weiterhin mit körperlichen Bestrafungen assoziiert - Diebe mit abgeschlagenen Händen, Prostituierte ohne Haare usw.

Ein Stigma ist also eine Abweichung von der Norm, oder auch ein Bruch der Erwartungen der Allgemeinheit. Stigmatisierung hingegen ist ein Prozess, bei welchem einzelne Personen von anderen in eine Kategorie eingeordnet werden. Dies geschieht durch eine Zuschreibung etwa negativer Eigenschaften, oder das Herabsetzen bereits sichtbarer Eigenschaften und Verhaltensweisen.

 

Stigmatisierung ist also eine unzulässige Verallgemeinerung bestimmter Eigenschaften oder Verhaltensweisen auf den Gesamtcharakter einer Person. 

 

Da es sich um wahrgenommene Verletzungen der allgemeinen Norm handelt, sind die Opfer von Stigmatisierung häufig in sozialen Randgruppen bzw. abseits der Mitte zu finden: Arme, Schwerbehinderte, Migranten, sexuelle und religiöse Minderheiten, chronisch-kranke Menschen.

 

Stigmatisierung steht in einem engen Verhältnis mit Vorurteilen und Klischees.

 

Zwei (leider) klassische Beispiele:

  1. Alle schwerbehinderten Menschen sind auf Arbeit leistungsschwächer als Nicht-Behinderte.
  2. Alle muslimischen Männer sind Machos.

Diese Vorurteile entstehen anhand von Überlegungen bzw. der Beobachtung von Einzelfällen. Es gibt muslimische Machos -> alle Muslime unterdrücken Frauenrechte. Einige Schwerbehinderte arbeiten aufgrund ihrer körperlichen oder geistigen Einschränkungen langsamer oder ineffizienter -> alle Behinderten sind leistungsschwach. Diese Vorurteile führen zu Stigmatisierung, Diskriminierung und letztendlich zu sozialer Benachteiligung. In einem Teufelskreis werden Randgruppen noch weiter an die Ränder gedrängt.

 

Die Stigmatisierung erfüllt einen sozialen Zweck: Die Ausrichtung der Menschen an Normen und die Erhebung des eigenen Selbstbildes durch die Erfüllung eben jener.

 

 

Drei Arten von Stigmatisierung

 

In der Forschung unterscheiden wir drei Formen von Stigmatisierung (Link & Kollegen, 2004):

  1. erlebte Stigmatisierung - Die Auswirkungen der Stigmatisierung durch andere werden konkret erlebt und als Diskriminierung und Benachteiligung empfunden. Es liegen realistische Anzeichen für die Zurückweisung vor (bspw. herabwürdigende Aussagen bezogen auf die jeweilige Eigenschaft).
  2. wahrgenommene oder erwartete Stigmatisierung - Die Betroffenen gehen davon aus, dass sie aufgrund einer Eigenschaft (etwa Nationalität, sexuelle Präferenz) in einer bestimmten Art und Weise von ihrem Umfeld interpretiert werden (Aufgrund meiner Homosexualität nehmen mich Kollegen als nicht so verhandlungsstark, dominant etc. wahr). Handlungsweisen des Gegenübers werden durch dieses Muster erklärt.
  3. internalisierte Stigmatisierung - Die Betroffenen machen sich die negativen Zuschreibungen der Außenwelt zu eigen (In Mathe kann ich eh nicht gut sein, weil ich ja ein Mädchen bin").

 

 

Stigmatisierung beim Reizdarmsyndrom

 

Es gibt mehrere Studien, welche eine starke Stigmatisierung von RDS-kranken Menschen nahelegen. Besonders interessant ist eine Arbeit von Taft und Kollegen aus dem Jahr 2011. In dieser untersuchten die Wissenschaftler die wahrgenommene Stigmatisierung von Reizdarm- und CED-(chronisch-entzündliche Darmerkrankungen)-Patienten. 27% der Betroffenen mit Reizdarmsyndrom berichteten eine hohe bis mittel-starke wahrgenommene Stigmatisierung. Bei den CED-Patienten waren es trotz ausufernderer Symptome, mehr Fehltagen etc. nur 8%.

Sehr viele Reizdarmpatienten berichten außerdem, dass sie sich von Kollegen, Familienmitgliedern und Ärzten unverstanden fühlen (u.a. Jones & Kollegen, 2009). Dabei kommt es häufig zu den bereits weiter oben beschriebenen Zuschreibungen ("Du bist nicht wirklich krank und müsstest dich ja eigentlich nur einmal zusammenreißen"). Ein bedeutender Teil der Betroffenen übernimmt letztendlich diese negativen Überzeugungen im Zusammenhang mit ihrer Erkrankung in sein Selbstkonzept. Wir sprechen jetzt vom internalisierten Stigma.

 

Die Internalisierung eines Stigmas im Krankheitssinn führte in vergangenen Untersuchungen zu folgenden Schwierigkeiten:

  1. verstärkte Depressionen
  2. intensiveres Angsterleben
  3. vermindertes Selbstwertgefühl
  4. geringere Compliance bei der Therapie
  5. niedrigere Lebensqualität
  6. schlechtere Krankheitsergebnisse

 

Die Studie von Taft und Kollegen (2014)

 

In einer weiteren spannenden Untersuchung befragten Taft und Kollegen (2014) 243 Reizdarmsyndrom-Betroffene bezüglich wahrgenommener und internalisierter Stigmatisierung. Besonders vorbildich war die Studie u.a. bei der Erfassung der verschiedenen Patientenmerkmale. So erfahren wir nicht nur, wer mit einem Ernährungsberater zusammen arbeitet, sondern auch wie viele Arztbesuche im vergangenen Jahr vollzogen worden sind, oder wer Naturheilkunde und Supplemente nutzt. Die Aufschlüsselung nach Subtypen scheint dabei fast schon banal. (Wenn dies nur in jeder Studie der Fall wäre ...)

 

Auch in dieser Stichprobe wurde ein hohes Maß an wahrgenommener und internalisierter Stigmatisierung berichtet. Zu den am häufigsten genannten Konstrukten gehört Entfremdung. Im Sinne der verwendeten Skalen widerspiegelt der Begriff das Gefühl "weniger als ein vollständiges Mitglied der Gesellschaft" zu sein. Weitere Punkte waren vor allem sozialer Rückzug und Diskriminierungserfahrungen.

Die befragten RDS-Betroffenen berichteten eine deutlich höhere wahrgenommene Stigmatisierung durch das nähere Umfeld, als durch Ärzte und medizinisches Fachpersonal. Patienten, welche naturheilkundliche Therapie bevorzugten (Chiropraktik, Akupressur etc.) beschrieben eine stärkere internalisierte Stigmatisierung.

 

Der interessanteste Befund: Internalisierte Stigmatisierung konnte nach der Kontrolle weiterer Variablen 25-40% der Varianz bei der Lebensqualität, dem psychologischen Wohlbefinden (inklusive Angst und Depressionen) und der Gesundheitskompetenz erklären.

 

Die Autoren schließen dann auch: RDS-Betroffene berichten sowohl wahrgenommene als auch internalisierte Stigmatisierung. Letztere hat einen bedeutenden Einfluss auf mehrere Krankheitsergebnisse.

 

 

Was ist also zu tun?

 

Um wahrgenommener und internalisierter Stigmatisierung entgegen zu wirken und dadurch weitere negative Auswirkungen bspw. auf die Lebensqualität zu verhindern, ist zum einen ein hohes Maß an Vertrauen, Empathie und Einfühlungsvermögen seitens der Ärzt, Psychologen und Ernährungsberater nötig. Vorurteile im Umgang mit RDS-Patienten sollten in Gruppendiskussionen etc. gezielt hinterfragt und neu gedacht werden.

 

Weiterhin benötigt es einer verbesserten Aufklärung der Patienten. Umso mehr sie über ihre Krankheit und dahinter liegende Mechanismen (Mastzellen, Mikrobiom, Entzündungen, Dünndarmfehlbesiedlung, Hirn-Darm-Achse) erfahren, desto weniger sind sie geneigt Fehlinterpretationen von Außenstehenden zu internalisieren. Auch hier ist wieder die verstärkte Anstrengung des Fachpersonals, aber auch der Medien und natürlich der Betroffenen selbst gefragt (Foren, Selbsthilfegruppen, Soziale Netzwerke).

 

Für uns Betroffene selbst kann die Arbeit mit diesem Thema ein Anlass sein, um in uns selbst zu horchen. Wo neigen wir vielleicht selbst zur unangemessenen Stigmatisierung und wie könnte man vielleicht anders damit umgehen?